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Berndorf 07 - Trotzkis Narr

Berndorf 07 - Trotzkis Narr

Titel: Berndorf 07 - Trotzkis Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Aktionsbündnisse und heuerte nach der Jahrtausendwende bei einer Promotions-Agentur an. Er empfängt Tamar in einem großen hellen Büro, dessen eine Wand von einer lebensgroßen Fotografie ausgefüllt ist: eine kleine Straße im Wald, ein Rudel Polizisten in Kampfanzügen schwärmt aus gegen eine Gruppe von Demonstranten, die – untergehakt – auf der Straße sitzen und sie blockieren …
    »Gorleben, sagen wir einmal: 1997?«, rät Tamar, die davor stehen geblieben ist.
    »Exakt«, kommentiert Wilson, »waren Sie dabei?«
    Tamar wirft ihm einen grimmigen Blick zu. »Auf der falschen Seite.«
    »Wow!«, macht Wilson, »eine Bullin? Oder wie sagt man da?«
    Statt einer Antwort deutet Tamar auf das Bild, genauer: auf den Kopf eines hübschen jungen Mannes mit sehr kurz geschnittenen Haaren. »Waren Sie das?«
    »Tja«, macht Wilson und hebt, als Tamar ihn wieder ins Auge fasst, resignierend beide Hände. »Das war einmal.« Tamar registriert: noch immer Stoppelfrisur, aber Haare und Drei-Tage-Bart grau, Lebendgewicht geschätzt neunzig Kilo … Nur die Stiefel sind noch immer die des Straßenkämpfers. Wilson will wissen, wie sie ihn eigentlich gefunden hat.
    Tamar zeigt die Zeitungsausschnitte vor – nicht alle, sondern nur die drei, die auf den Transvestiten Carmencita Bezug nehmen. »Weil der erste Artikel in der Alternativen erschienen ist, hab ich dort in der Redaktion nachgefragt, das ließ sich zunächst recht hoffnungslos an, aber dann wurde eine ältere Frau aufmerksam und sagte, sie erinnere sich an die Geschichte, und dass Sie …« – eine höfliche Handbewegung deutet auf Wilson – »damals immer wieder deshalb vorgesprochen hätten, offenbar kennt man Sie in der Redaktion …«
    »Natürlich kennt man mich in der Redaktion«, fällt ihr Wilson ins Wort, der noch immer die Ausschnitte in der Hand hält, »ich hab genug mit denen zu tun. Ich vermute mal, Sie sind an Luzie geraten. Zeitungsredaktionen, müssen Sie wissen, bestehen alle aus Einzeldarstellern. Aus lauter verhinderten Watergate-Enthüllern. Sonst haben die nichts im Kopf. Die Zeitungen wären verratzt und verloren, wenn es nicht dazwischen die Luzies gäbe, die ihre fünf Sinne beisammenhaben und ein wenig Ordnung halten.«
    »Sie waren wegen Carmencita mehrmals dort?«
    »Aber ja doch!«, ruft er aus und wedelt ärgerlich mit den Kopien, »übrigens ist das alles der schiere Schrott, was hier drinsteht, noch heute begreife ich es nicht. Das war ein mit Händen zu greifender Skandal, aber nicht einmal die Alternative wollte da richtig dran.«
    Tamar fragt, ob er ihr die Geschichte erzählen will. Sie haben inzwischen an einem Besprechungstisch Platz genommen, Wilson sitzt Tamar gegenüber, Ellbogen aufgelegt, das Kinn auf die Hände gestützt, und betrachtet Tamar aus Augen, die gerötet sind, vom Stress, oder vom letzten Entspannungstrinken nach dem Stress. Das schwarze Sakko sieht teuer aus und ist an den kräftigen Unterarmen hochgeschoben, am Revers steckt der Red Ribbon.
    »Ja, sicher will ich die Geschichte erzählen. Seit zwanzig Jahren warte ich darauf, dass das jemand hören will … Aber trinken Sie einen Kaffee oder Espresso?«
    Tamar will gerne einen Espresso, er greift zum Telefon und ordert zwei doppelte. »Aber machen Sie sich keine falschen Vorstellungen«, sagt er, als er aufgelegt hat. »De mortuis … oder wie das auf Lateinisch heißen soll, das ist ja gut und schön, aber Erwin oder Carmencita, ganz wie Sie wollen, war erstens eine ziemliche Nervensäge, das war wirklich nicht lustig, wenn sie den Leuten vor dem Gesicht herumgefuchtelt hat, mit ihren rot lackierten Krallen und den klappernden zusammengesteckten Armreifen aus Silberblech, und zweitens und vor allem war sie ein ziemlich tückisches und rachsüchtiges Luder. Und deswegen bin ich auch in die Geschichte hineingeraten … ich wollte ihr nämlich die Fresse polieren. Sie hatte Zeug von mir herumerzählt, das muss und will und werde ich nicht wiederholen, jedenfalls hab ich sie deshalb überall gesucht und nicht gefunden, bis mir einer von dem Neubau an der Torstraße erzählte, der war schon fast fertig, aber musste erst austrocknen, bevor die Böden verlegt wurden …« Er bricht ab, denn seine Sekretärin bringt den Espresso, es ist eine sehr schöne Sekretärin, wirklich, denkt Tamar, mit ihren blonden Zöpfen sieht sie aus wie die Gretel aus dem Märchen, die vom Wolf in die Reeperstraße verkauft worden ist.
    »Also, ich gehe zu dem Neubau, der

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