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Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde

Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde

Titel: Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Pille, die ich in der Hand hielt, Nebes eigene gewesen. Es sind solche Spekulationen, so unwahrscheinlich sie immer sein mögen, aus denen sich die Philosophie eines Mannes in den letzten ihm verbleibenden Stunden zusam mensetzt.
    Ich steckte die Pille in meinen Mund und hielt sie behut sam zwischen den hinteren Backenzähnen. Wenn die Zeit kam, würde ich dann auch den Schneid haben, das Ding zu zerkauen? Meine Zunge schob die Pille über die Kante mei ner Zähne in eine Backenfalte. Ich rieb mit dem Finger über mein Gesicht und konnte sie durch das Fleisch fühlen. Ob je mand sie sehen konnte? Das einzige Licht in meiner Zelle kam von einer nackten Glühbirne, die anscheinend lediglich mit Spinnweben an einem der hölzernen Dachsparren befe stigt war. Trotzdem wurde ich die Vorstellung nicht los, der Umriß der Pille in meinem Mund sei für jedermann deutlich sichtbar.
    Als ein Schlüssel im Schloß knirschte, wurde mir klar, daß ich das bald feststellen würde.
    Der Lette kam durch die Tür, in der einen Hand seinen großen Colt, in der anderen ein kleines Tablett.
    «Weg von der Tür», sagte er undeutlich.
    «Was ist das? » fragte ich und rutschte auf meinem Hinter teil zurück. «Was zu essen? Vielleicht könnten Sie der Direk tion sagen, daß ich am liebsten eine Zigarette hätte.»
    « Sei froh, daß du überhaupt was kriegst », knurrte er. Vorsichtig hockte er sich hin und stellte das Tablett auf den stau bigen Boden. Darauf waren ein Becher Kaffee und ein großes Stück Strudel. «Der Kaffee ist frisch. Der Strudel ist selbstge macht.» Eine törichte Sekunde lang erwog ich, mich auf ihn zu werfen, ehe ich mich daran erinnerte, daß ein Mann in meinem geschwächten Zustand etwa so beweglich war wie ein gefrorener Wasserfall. Der Versuch, den riesigen Letten zu überwältigen, war etwa so aussichtsreich wie die Bemü hung, ihn in einen sokratischen Dialog zu verwickeln. Er schien dennoch einen kleinen Hoffnungsschimmer in mei nem Gesicht zu ahnen, wenngleich die in meinem Zahn fleisch ruhende Pille unentdeckt blieb. «Mach schon», sagte er, «versuch's doch. Ich wünschte, du würdest es riskieren; ich würde dir gern die Kniescheibe wegputzen.» Grinsend wie ein geistig zurückgebliebener Grizzlybär schob er sich rückwärts aus meiner Zelle und schloß die Tür mit einem lauten Knall. So wie er gebaut war, schien mir Rainis der Typ zu sein, der Freude am Essen hatte. Wenn er nicht gerade Leute umbrachte oder zusammenschlug, war das vermutlich sein einziges Vergnügen. Möglicherweise war er sogar so etwas wie ein Vielfraß. Mir kam der Gedanke, daß sich Rainis vielleicht nicht zurückhalten konnte und den Strudel selber aß, wenn ich ihn unangerührt ließ. Wenn ich nun eine meiner Zyankali-Kapseln in die Füllung praktizierte, würde der einfältige Lette später, vielleicht lange nach meinem Tod, meinen Strudel essen und sterben. Wenn ich die Welt verließ, so dachte ich, war das unter Umständen ein tröstlicher Ge danke, zu wissen, daß er mir rasch folgen würde. Ich be schloß, den Kaffee zu trinken, während ich darüber nach dachte. War eine Todespille in heißem Wasser löslich? Ich wußte es nicht. Also spuckte ich die Pille aus, dachte, es könne ebensogut diese Pille sein, die ich benutzte, um meinen erbärmlichen Plan in die Tat umzusetzen, und drückte sie mit dem Zeigefinger in die Obstfüllung.
    Ich war so hungrig, daß ich mit Leichtigkeit mich selbst, die Pille und wer weiß was verspeist hätte. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, daß seit meinem Wiener Frühstück fünf zehn Stunden vergangen waren, und der Kaffee schmeckte gut. Ich kam zu dem Schluß, daß es nur Arthur Nebe gewe sen sein konnte, der den Letten angewiesen hatte, mir etwas zu essen zu bringen. Eine weitere Stunde verging. Acht Stun den lagen noch vor mir, bevor sie kommen und mich nach oben holen würden. Ich würde warten, bis es keine Hoffnung mehr gab, keine Gnadenfrist mehr gewährt wurde, ehe ich mir das Leben nahm. Ich versuchte zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Ich begann zu verstehen, wie Becker zu mute sein mußte, den der Galgen erwartete. Wenigstens war ich besser dran als er, denn ich hatte immerhin meine Todes pille.
    Es war fast Mitternacht, als ich wiederum den Schlüssel im Schloß hörte. Rasch beförderte ich meine zweite Pille aus dem Hosenumschlag in meine Backentasche, für den Fall, daß sie auf die Idee kommen würden, meine Kleider zu fil zen. Jedoch es war nicht Rainis, der kam, um

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