Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde
solange Sie in Wien sind, besteht darin, sich aus dem russi schen Sektor fernzuhalten. Besonders spät in der Nacht.»
Ich folgte Liebls Blick über die Straße zur anderen Seite des Kanals, wo in der frühen Morgenbrise eine rote Fahne flat terte. «Es gibt ein paar Kidnapper-Banden, die in Wien für die Iwans arbeiten", erklärte er. «Sie schnappen sich jeden, von dem sie glauben, er könnte vielleicht für die Amerikaner spionieren, und als Gegenleistung bekommen sie Schwarz markt-Konzessionen, die ihnen erlauben, außerhalb des rus sischen Sektors Geschäfte zu machen, wo man sie gesetzlich nicht belangen kann. Sie holten eine Frau aus ihrem Haus, in einen Teppich gerollt, genau wie Kleopatra.»
«Na, ich werde aufpassen, daß ich nicht auf dem Fußboden einschlafe», sagte ich. « Sagen Sie, wie komme ich zum Zentralfriedhof? »
« Er liegt im britischen Sektor. Sie müssen eine 71 nehmen, am Schwarzenbergplatz, der auf Ihrem Stadtplan jetzt Stalin platz heißt. Sie können ihn nicht verfehlen: Dort steht die rie sige Statue eines russischen Soldaten, dargestellt als der Be freier, die wir Wiener den Unbekannten Plünderer nennen.»
Ich lächelte. «Wie ich immer sagte, Dr. Liebl: Eine Nieder lage können wir überleben, aber bewahre uns der Himmel vor einer weiteren Befreiung.»
13
«Die Stadt der anderen Wiener», so hatte ihn Traudl Braun steiner mir beschrieben. Das war keine Übertreibung. Der Zentralfriedhof war größer als viele Städte, die ich kannte, und überdies roch er ein bißchen mehr nach Wohlstand. Der Durchschnittsösterreicher kann ebensowenig ohne Grab stein wie ohne sein Stammcafe auskommen. Es schien so, als sei niemand zu arm für ein anständiges Stück Marmor, und ich begann zum erstenmal die Reize des Bestattungsgewerbes zu würdigen: eine Klaviertastatur, eine inspirierte Muse, die Anfangstakte eines berühmten Walzers - nichts war zu über laden für Wiens Grabkünstler, kein schwülstiges Märchen, keine übertriebene Allegorie, die ihre Kunst nicht gemeistert hätte. Die riesige Nekropolis spiegelte sogar die religiösen und politischen Unterteilungen ihres lebendigen Gegen stücks, betrachtete man ihre jüdischen, protestantischen und katholischen Sektionen, ganz zu schweigen von der der Vier Mächte.
Es begann gerade ein neuer Gottesdienst in der Kapelle, groß wie das erste Weltwunder, in der die Trauerfeier für Linden stattfand, und ich stellte fest, daß ich die Trauergäste des Captains dort bloß um ein paar Minuten verpaßt hatte. Der kleine Trauerzug war leicht auszumachen, als er langsam durch den verschneiten Park zum französischen Sektor zog, wo Linden, ein Katholik, beigesetzt werden sollte. Aber für einen Fußgänger wie mich war es ein bißchen schwieriger, ihn einzuholen: Als ich es geschafft hatte, wurde der auf wendige Sarg bereits langsam in die dunkelbraune Grube hinuntergelassen wie ein Beiboot in ein schmutziges Hafen becken. Die Mitglieder der Familie Linden, die sich unterge hakt hatten wie ein Trupp Bereitschaftspolizisten, ertrugen ihren Kummer so unbeugsam, als hätten sie dafür einen Or den bekommen.
Die Soldaten der Ehrenwache hoben die Gewehre und zielten auf den wirbelnden Schnee. Mich beschlich ein son derbares Gefühl, als sie feuerten, und für einen kurzen Augenblick war ich wieder in Minsk, unterwegs zum Haupt quartier des Stabes, als meine Aufmerksamkeit durch das Geräusch von Schüssen geweckt worden war: Ich kletterte einen Erdwall hinauf und sah sechs Männer und Frauen am Rand eines Massengrabes knien, das bereits mit ungezählten Leibern gefüllt war, von denen einige noch lebten, und hinter ihnen ein SS-Erschießungskommando, befehligt von einem jungen Polizeioffizier. Sein Name war Emil Becker.
«Sind Sie ein Freund des Toten?» sagte ein Mann, ein Amerikaner, der hinter mir auftauchte.
«Nein», gab ich zur Antwort. «Ich bin rübergekommen, weil ich an einem Ort wie diesem kein Gewehrfeuer erwartet habe.» Ich konnte nicht sagen, ob der Amerikaner bereits an der Totenfeier teilgenommen hatte oder ob er mir von der Kapelle gefolgt war. Er sah nicht wie der Mann aus, der vor Liebls Kanzlei gestanden hatte. Ich deutete auf das Grab. «Sagen Sie mir, wer ... »
«Ein Bursche namens Linden.»
Bei jemandem, der Deutsch nicht als Muttersprache spricht, ist es schwer herauszuhören, darum konnte ich mich vielleicht irren, aber in der Stimme des Amerikaners meinte ich keine Spur von Mitgefühl zu entdecken.
Als ich genug
Weitere Kostenlose Bücher