Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde
innegehalten, um Atem zu holen und die Worte der Inschrift zu entziffern, die senkrecht aus seiner Brust hervorzukommen schienen. Aber kein Steinmetz ar beitete jemals in solch einer Stellung, im rechten Winkel zur Inschrift. Und Atem holen würde er nie wieder, denn ob-
gleich die menschliche Brust ein ausreichend stabiler Käfig für jene weichen, beweglichen Tierchen ist, wie sie Herz und Lunge sind, wird sie doch leicht von einem Gegenstand zer quetscht, der so schwer ist wie eine halbe Tonne polierten Marmors.
Es sah wie ein Unfall aus, aber es gab nur eine Möglich keit, sich Gewißheit zu verschaffen. Ich ließ Pichler im Hof liegen, wo ich ihn gefunden hatte, und ging in das Büro.
Ich konnte mich kaum noch an die Beschreibung erinnern, die mir der tote Mann von der Buchhaltung seines Geschäftes gegeben hatte. Für mich sind die Feinheiten der doppelten Buchführung etwa ebenso nützlich wie ein paar Wanderstie fel. Doch als ein Mann, der selber ein Geschäft hatte, wenn auch nur ein kleines, besaß ich eine rudimentäre Kenntnis davon, daß Positionen eines Geschäftsbuches mit denen in einem anderen übereinstimmen sollten. Und ich brauchte nicht William Randolph Hearst zu befragen, um zu erken nen, das Pichlers Bücher verändert worden waren, nicht durch einen subtilen Buchhaltungstrick, sondern mit einem einfachen Hilfsmittel: Man hatte zwei Seiten herausgerissen. Das ließ unter dem Strich nur eine Deutung zu, und die lau tete, daß Pichlers Tod alles andere als ein Zufall gewesen war.
Da ich mich fragte, ob sein Mörder daran gedacht hatte, neben den relevanten Seiten aus den Geschäftsbüchern auch die Musterskizze für Doktor Max Abs' Grabstein zu stehlen, ging ich auf den Hof zurück, um zu sehen, ob ich sie viel leicht finden konnte. Ich sah mich gründlich um und ent deckte nach einigen Minuten eine Anzahl staubiger Mappen mit Entwürfen, die an einer Wand der Werkstatt im hinteren Hof aufgestapelt waren. Ich schnürte die erste auf und be gann die Entwürfe des Zeichners durchzusehen, wobei ich mich beeilte, denn ich wollte nicht dabei ertappt werden, daß ich das Anwesen eines Mannes durchsuchte, der weniger als zehn Meter entfernt zerquetscht unter einem Stein lag. Und als ich die Zeichnung schließlich fand, nach der ich suchte, warf ich nicht mehr als einen flüchtigen Blick darauf, bevor ich sie zusammenfaltete und in meine Manteltasche gleiten ließ.
Ich erwischte eine 71 zurück zur Stadt und ging ins Cafe Schwarzenberg, in der Nähe der Endstation der Straßenbahn am Kärntner Ring. Ich bestellte eine Melange, und dann brei tete ich die Zeichnung vor mir auf dem Tisch aus. Sie hatte ungefähr die Größe der Doppelseite einer Zeitung, und der Name des Kunden - Max Abs - war deutlich auf einem Be stellschein vermerkt, der an die rechte obere Ecke des Papiers angeheftet war.
Als Text für die Inschrift war folgendes vermerkt:
DEM GEDENKEN VON MARTIN ALBERS; GEBOREN 1899, ZU TODE GEMARTERT 9. APRIL 1945. GELIEBT VON SEINER FRAU LENI UND SEINEN SÖHNEN MANFRED UND ROLF. SIEHE, ICH SAGE EUCH EIN GEHEIMNIS: WIR WERDEN NICHT ALLE ENTSCHLAFEN, WIR WERDEN ABER ALLE VER WANDELT WERDEN; UND DASSELBE PLÖTZLICH, IN EINEM AUGENBLICK, ZUR ZEIT DER LETZTEN POSAUNE. DENN ES WIRD DIE POSAUNE SCHALLEN; UND DIE TOTEN WERDEN AUFERSTEHEN UNVERWESLICH, UND WIR WERDEN VER WANDELT WERDEN.
r. KORINTHER 15,51- 52.
Auf Max Abs' Bestellung war eine Adresse vermerkt, doch abgesehen von der Tatsache, daß der Doktor für einen Grab stein im Namen eines Mannes gezahlt hatte, der tot war - ein Schwager vielleicht? - und der jetzt den Mord an dem Mann verursacht hatte, der die Inschrift eingraviert hatte, hatte ich nicht den Eindruck, daß ich viel erfahren hatte.
Der Kellner, der sein graues, gekräuseltes Haar wie einen Heiligenschein auf dem kahlen Hinterkopf trug, kehrte mit dem kleinen Metalltablett zurück, auf dem meine Melange und das in Wiener Cafes gewöhnlich mit dem Kaffee ser vierte Glas Wasser standen. Er warf einen Blick auf die Zeichnung, ehe ich sie zusammenfaltete, um Platz für das Ta-
blett zu machen, und sagte mit einem mitfühlenden Lächeln: «Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet wer den.»
Ich dankte ihm für seine freundlichen Worte, gab ihm ein üppiges Trinkgeld und fragte ihn dann, wo ich ein Tele gramm abschicken könne und wo die Berggasse sei.
«Das Zentrale Telegrafenamt ist am Börsenplatz », ant wortete er, «auf dem Schottenring. Die Berggasse ist
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