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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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das Wegwerfen geschlachteter, winziger Versuchstierkörper hatte ihm seinen Platz zugewiesen – und auch ihnen den ihren. Tiere hatten weder Rechte noch Gefühle. Doch wenn er den Kopf der zitternden Maus zwischen seinen Fingern hielt und in die roten Augen sah, wenn er nach dem Schwanz griff, um ihnen das Genick zu brechen, dann zitterten seine Händen meistens …
    Der Boden erbebte unter dem Ansturm aufgestauter Energien. Jary fiel zu Boden, doch den Aufprall spürte er nicht. Hinter sich hörte er die Wächter fluchen und sah vor sich, wie Orr sich verzweifelt bemühte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Als seine Hände ihm verrieten, daß das Beben nachgelassen hatte, kroch er auf Orr zu, wobei er sich mit den Händen den Weg ertastete. Kalter Schweiß bedeckte seine Handflächen. Er konnte unerwartete Erdstöße nicht ausgleichen, daher kroch er auf den Händen weiter.
    „Piper!“ Orr zog an dem Sicherungsseil. „Steh auf, du beschädigst die Schachtel mit den Proben!“
    Jary hörte die Wächter hinter sich aufstehen, einer lachte. Der Schmerz einer plötzlichen Erinnerung brachte ihn auf die Beine. Er ging weiter, ohne sich umzusehen. Er war auch nach der ersten Operation, die seine Empfindungen abgetötet hatte, gekrochen – unter Einsatz seiner immer noch empfindungsfähigen Hände, um seinen gefühllosen Körper zu leiten. Die Labortechniker hatten gelacht, und er hatte ebenfalls gelacht, bis sich der Nebel seiner Repersonalisierungsbehandlung gelegt und er erkannt hatte, daß sie über ihn lachten. Dann erst hatte er sich selbst wieder beigebracht, aufrecht wie ein menschliches Wesen zu gehen, damit er wenigstens wie ein solches aussah.
    Weiter oben sah er Orr erneut verharren. Sie mußten bereits den Riß erreicht haben. „Leuchte mir mal hier oben.“
    Er ging weiter, bis das Seil schlaff wurde, und beleuchtete mit seiner Lampe den fast meterbreiten Spalt, der sich vor ihnen auftat. Die Wächter gesellten sich zu ihm. Orr stellte sich in den Lichtkreis ihrer Lampen und schaffte den Sprung leicht. Jary ging zum Rand der Kluft und leuchtete mit seiner Lampe hinab. Er sah die ölig schimmernde Wasseroberfläche mehr als zehn Meter tief unten. Er schluckte.
    „Steh nicht so nahe am Rand!“
    „Geh etwas zurück und spring einfach.“
    „Nicht daran denken …“
    „Komm schon, Jary, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
    Hyacin-Soong schlug ihm in dem Augenblick auf die Schulter, als er springen wollte. Mit einem erstickten Protestschrei verlor er das Gleichgewicht und fiel.
    Das Sicherungsseil straffte sich und schwang ihn gegen die Wände der Kluft. Erschrocken und verblüfft taumelte er innerhalb eines Kreises von wirbelndem Licht und Dunkelheit. Und dann spürte er ungläubig, wie das Halteseil nachgab … Plötzlich glitt er weitere sechs Meter tiefer.
    „Jary! Jary …?“
    „Kannst du uns hören?“
    Jary öffnete die Augen, seltsam überrascht, daß er immer noch sehen konnte, daß seine Helmlampe, die Lautsprecher seines Anzugs, sein Gehirn noch funktionierten …
    „Ist mit dir alles in Ordnung, Piper?“
    Er erkannte Orrs Stimme, dann die Bedeutung der Worte. Ein kurzes, erstauntes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ja, Doktor, f-fein!“ Seine Stimme zitterte. Dann kam ihm zu Bewußtsein, wie absurd seine Antwort war, und er mußte lachen.
    „Laß dich nicht gehen! Du hast einen Schock. Was ist mit den Proben?“
    Jary atmete tief durch und sah gehorsam nach unten. Er stand bis zu den Hüften in kochendem Wasser. Seine Beine gehorchten ihm nicht, als er versuchte, sie zu bewegen. Einen Augenblick fragte er sich, ob er sich das Rückgrat gebrochen hatte. Doch seine suchenden Hände entdeckten zähen Schlamm nur dreißig Zentimeter unterhalb der Wasseroberfläche, also war er nur gefangen, nicht gelähmt. Die Schachtel mit den Proben trieb fast außerhalb seiner Reichweite im Wasser. Er beugte sich vornüber, packte das Seil und zog sie wieder zu sich heran. Die Trogs im Innern waren durch die Erschütterungen aus ihrer Gleichgültigkeit aufgeschreckt worden, und ihr panisches Umherirren erschreckte ihn.
    „Und? Was ist geschehen?“
    Jary bemerkte, daß sein Griff nach der Schachtel ihn noch tiefer im Morast hatte versinken lassen, das Wasser reichte ihm nun schon bis zur Brust. „Ich h-habe sie. Aber ich st-st-stecke im Schlamm fest. Ich versinke.“ Er las die externen Strahlungsmesser in seinem Helm ab. „Jedes Dosimeter ist im roten B-bereich, mein Anzug wird b-bald

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