Berthold Beitz (German Edition)
ein Gespür für seine Zeugen hat, lächelt und unterbricht die Sitzung für zehn Minuten. Eine Zigarette später beschreibt Hilde Olsen das Grauen jener Tage, wie sie selbst Unterschlupf im »Weißen Haus« als Sekretärin bei Berthold Beitz fand, ihre Schwestern und die Eltern aber deportiert wurden. Mit fester Stimme sagt die Zeugin: »Wir wußten, wohin diese Züge fuhren. Sie fuhren in den Tod.« Aber sie hat überlebt, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Sie beschreibt, wie Berthold Beitz auf die Rampe des Bahnhofs von Boryslaw ging, die Plomben an den Schlössern der Güterwagen aufriss und seine Mitarbeiter herausholte.
Hilde Olsen hat nach ihrer Aussage auf den Zuschauerbänken Platz genommen, direkt gegenüber von Hildebrand auf der anderen Seite des Saals, da öffnet sich die Tür zum Zeugenzimmer, und Beitz betritt den Saal. Sein Blick streift den von Hilde Olsen, er bleibt stehen und lächelt. Sie springt auf, er nickt dem erstaunten Richter zu und sagt: »Sie erlauben doch bitte.« Beitz geht quer durch den Saal auf die Frau zu und ergreift ihre Hände: »Na, Hilde, wie geht’s denn?«
Welch ein Wiedersehen nach 22 Jahren: der SS -Mann, die jüdische Sekretärin, der Direktor. Der SS -Mann, damals in Polen der Mächtigste des Trios, sitzt nun auf der Anklagebank. Die Sekretärin hat ihr so mühsam gerettetes Leben gemeistert, immerhin, hat einen ihrer Freunde aus dem kommunistischen Berliner Widerstand geheiratet, in den USA eine neue Existenz aufgebaut und schwere Depressionen überwunden. Jeden Mittwoch geht sie zu einem Stammtisch deutscher Juden in New York, dann sprechen sie die Sprache ihrer Heimat, des verlorenen Landes. Der Direktor von einst schließlich ist ein bekannter, weltgewandter Mann geworden, einer der wichtigsten Industriemanager der Republik, und seinetwegen drängen sich Journalisten der großen Blätter auf der Pressebank des Saals 131. Zuvor hatten nur die Lokalreporter gelegentlich bei dem Verfahren gegen Fritz Hildebrand vorbeigeschaut. Jetzt aber ist Beitz dort, jetzt hält Hilde Olsen seine Hände und lächelt ihm zu, und dem Zeit -Journalisten Dietrich Strothmann kommt es vor, als sei »in ihrem Lächeln Dankbarkeit, bei diesem ersten Wiedersehen der Jüdin und des Deutschen, die ein merkwürdiges Schicksal zusammenführte«.
So ist es im Grunde das erste Mal, dass eine breitere Öffentlichkeit Genaueres über Beitz’ Rettungstaten erfährt. Er berichtet von dem Mädchen, das zurück in den Deportationszug zu seiner Mutter stieg, von dem SS -Mann, der ihn zwei Gerettete aus dem Waggon holen ließ, weil er nicht wusste, wie gefährlich ihm dieser seltsame junge Mann von der Karpathen-Öl vielleicht werden konnte – »Ach, nehmen Sie sie sich halt« –, und von den vielen, die deportiert wurden und für die er nichts tun konnte.
Doch das Verfahren dreht sich nicht um Retter und Gerettete. Hier geht es um Ermordete und ihren Mörder. Es geht um Friedrich Hildebrand. Ob dieser von Beitz’ Hilfe für die Juden gewusst habe, will Richter Brademann wissen. Beitz: »Hildebrand ist der gewesen, der nicht ein, sondern zwei Augen zugedrückt hat.« Ob der SS -Mann dies aus einem Anflug von Menschlichkeit getan habe oder aus Angst, der kriegswichtigen Ölwirtschaft zu schaden? »Man kann einem Menschen nicht ins Herz sehen. Aber ich denke, daß er es aus eigenem Antrieb getan hat, weil er das Elend des Lagers kannte.« Ob er gesehen oder gehört habe, dass Hildebrand selbst Juden erschossen hat? Beitz achtet auf seine Worte: »Ich habe nie gesehen, daß Hildebrand Juden erschossen hat, und es ist auch nie jemand zu mir gekommen, der mir berichtet hat, daß Hildebrand jemand erschossen hat.« Ob er mit dem Untersturmführer darüber gesprochen habe, dass er jüdische Hilfskräfte in seinem Büro beschäftigte? Beitz zögert kurz, dann dreht er sich zu Hilde Olsen um und sagt: »Sonst säße sie nicht hier.«
Nach einer Stunde gibt es keine Fragen mehr an den Zeugen Beitz. Nachdem er gemeinsam mit Hilde Olsen den Saal 131 verlassen hat, sitzen die beiden lange im Bremer Ratskeller zusammen, tauschen Erinnerungen aus und Namen von Geretteten und solchen, für die es keine Rettung gab.
Am Nachmittag steigt Berthold Beitz in sein Privatflugzeug, das ihn nach Kampen bringt. Hilde Olsen begleitet ihn zum Bremer Flugplatz. »Ich muss zurück«, sagt Beitz, »ich muss meinem Gast noch etwas grillen.« Am Abend erwartet er Bundesaußenminister Gerhard Schröder in seinem Sylter Ferienhaus.
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