Berthold Beitz (German Edition)
Häfen sind veraltet und nicht auf moderne Containerschiffe eingerichtet, an den Maschinen sieht man »eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Arbeitern«. »Das Leben in der Volkskommune wird allerorten verherrlicht«, so Leussink weiter, »sei es auf Plakaten, sei es in Liedern und Gedichten. Dabei wird immer wieder der Frohsinn betont, mit dem in der Kommune zum Wohle der Gesamtheit gearbeitet wird. Demgegenüber fällt der große Ernst auf, von dem die Physiognomien der Landbevölkerung geprägt sind.« Überall aber spüren die Deutschen das ungeheure Potenzial des bevölkerungsreichsten Staates der Welt.
Höhepunkt der Reise ist der Besuch bei Ministerpräsident Tschou En-lai in der Großen Halle des Volkes zu Peking. In dem monumentalen Bau mit seinen hellen Marmorsäulen und dem leuchtenden roten Stern an der Decke empfängt Chinas Regierung hohe Gäste, so auch die Emissäre aus Deutschland. Zu deren Erstaunen berichtet Tschou En-lai, der Weggefährte Maos, Regierungschef seit 1949 und eigentlicher Architekt der neuen Öffnung nach Westen, aus seinen jungen Jahren. Tschou hatte in den zwanziger Jahren in Deutschland und Frankreich studiert oder besser: studieren sollen, sich aber lieber der Weltrevolution gewidmet. Mit einem Seitenhieb auf die Russen, deren Beziehungen zu China seit den sechziger Jahren frostig sind, sagt er: »Ich kenne nur Königsberg und nicht Kaliningrad.« In Königsberg hat er einmal Station gemacht. Gewichtiger ist seine Bemerkung: »Ich kann mir zwei deutsche Staaten nicht vorstellen.«
Die Deutschen gewinnen deutlich den Eindruck, dass China sich öffnen will. Hintergrund dieser Entwicklung ist – neben den inneren Verwerfungen des Landes – das Schisma im kommunistischen Lager, die Entfremdung vom sowjetischen Imperium. »China hat nach seinen Erfahrungen Grund gehabt, nicht auf die Sowjetunion zu bauen, sondern sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln«, sagt Tschou. Dabei, so die Botschaft, sei die Hilfe der Deutschen durchaus willkommen. So nimmt der Ministerpräsident das Angebot von Berthold Beitz, chinesische Studenten und Techniker in der Bundesrepublik auszubilden, gern an. Auch scheint das Land bereit, den Handel auszuweiten; Kredite aus dem Ausland – an denen man im sowjetischen Block so interessiert ist – will China aber weiterhin nicht aufnehmen. Tschou ist überrascht, als er vom Interesse der Europäischen Gemeinschaft hört, Nahrungsmittel und Textilien aus China einzuführen. Man erläutert ihm die »Bedeutung der Importe als Preisregulativ« – billige Einfuhren hinderten die heimischen Hersteller, überhöhte Preise zu verlangen. Nur eine Generation später wird der deutsche Textilhandel der Konkurrenz aus dem Fernen Osten und vor allem aus China fast völlig erlegen sein.
Es ist ein langer Abend, der erst nach Mitternacht endet. Müde defilieren die Delegierten zum Ausgang, wo Tschou En-lai jedem die Hand zum Abschied reicht. Beitz ist noch in der Halle, als ihn der Protokollchef Tschous anspricht: Ob Herr Beitz noch einen Moment bleiben könne, der Ministerpräsident wünsche ihn unter vier Augen zu sehen. Rolf Pauls, seit kurzem erster Botschafter der Bundesrepublik in China, bleibt neben ihm stehen, doch der Chinese sagt: »Er möchte mit Herrn Beitz alleine sprechen.« Pauls muss gehen, ein Botschafter mehr, der sich nicht sonderlich für den Handlungsreisenden aus Essen erwärmen dürfte.
So bleiben Beitz und Tschou En-lai in einem Beratungszimmer zurück. »Zuerst hat er sich über Berlin erkundigt«, erinnert sich Beitz, »und mit einem Mal hat er auch Deutsch gesprochen. Er wollte wissen, ob die hohen alten Häuser in der Berliner Kantstraße noch stehen – und wir haben festgestellt, dass wir beide dort einmal gewohnt haben: Ich hatte bei Kriegsende dort als Soldat ein Zimmer, und er eines während seines Studiums.« Nach dem höflichen Small Talk kommt der Chinese zur Sache: Ob IOC -Mitglied Beitz der Volksrepublik nicht helfen könne, Teil der olympischen Gemeinschaft zu werden? Bisher hat die Insel Taiwan als Nationalchina das geteilte Land bei den Spielen vertreten, doch die Volksrepublik möchte nun selbst teilnehmen. »Wenn unsere Freunde es wünschen, werden wir den Antrag stellen, Mitglied des IOC zu werden«, sagt Tschou En-lai. Für Beitz ist das eine Chance, den Öffnungskurs des Landes persönlich zu unterstützen, er wird die Wege dorthin glätten, und 1979 tritt die Volksrepublik schließlich der olympischen Gemeinschaft
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