Berthold Beitz (German Edition)
Alliierten genügt, um sie aus dem Amt zu entfernen. Einige werden sogar der Gruppe 3, den »Minderbelasteten«, zugeordnet. Die früheren Versicherer werden von den Briten zu körperlicher Arbeit beim Wiederaufbau eingesetzt.
Ohne vorbelastete Fachleute ist es fast unmöglich, eine effiziente Verwaltung aufzubauen – das muss jeder, der in einer vergleichbaren Lage wie Beitz ist, berücksichtigen, ob es ihm gefällt oder nicht. »Soll ich denn aus formellen Gründen die besten Leute vor der Tür lassen?«, fragt Beitz deshalb einmal.
Zudem kommen die »schweren Fälle« der Gruppen 1 und 2 (»Hauptschuldige« und »Belastete«) für Beitz’ Anwerbung ohnehin nicht in Frage – Kriegsverbrecher, Gestapomänner oder dergleichen gehören von vornherein nicht zu jenen, die er für sein Amt anwirbt und mit dem Gütesiegel der Entnazifizierung bedenkt. Den Männern, die Beitz von Berlin in sein Amt an die Elbe holen will, muss jeweils der Vorsitzende des Hamburger Entnazifizierungsausschusses zustimmen, der Sozialdemokrat Max Hockenholz, den die Nazis im Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel eingekerkert hatten. Mit ihm berät sich Beitz häufig und bespricht die Fälle, die er für das Versicherungsamt haben möchte – und natürlich auch, wer wegen Vorbelastung nicht in Frage kommt. Mit Hockenholz’ Unterstützung stellt er also seine Abteilungen zusammen, die er auf folgende Weise ermuntert: »Ich habe keine Ahnung davon. Meine Herren, Sie machen die Arbeit, und ich passe hier auf, dass Ihnen nichts passiert.« Heute sagt er: »Was sollte ich tun? Ohne sie hätte ich das Amt nicht wieder aufbauen können.«
Und dennoch: Es bleibt befremdlich und aus heutiger Sicht nicht leicht zu verstehen, wie derselbe Mann, der 1942 nur knapp der Gestapo entkommen ist und der so viele Menschen vor den Mördern des Regimes gerettet hat, schließlich »Persilscheine« für dessen frühere Anhänger ausstellt. Beitz hat es 1995 selbst in einem Aufsatz zu erklären versucht: »Der Mut zum Zugreifen war nach dem Ende des Krieges ganz besonders notwendig. Hatte es während des Krieges in aller Härte gegolten, das Leben nicht zu verlieren, so galt es nach dem Krieg, daß dieses Leben gestaltet werden mußte … Zu theoretischen Erörterungen der Zukunft unseres Landes ließ der Alltag kaum Zeit, und wir wollten jene Dinge in Bewegung setzen, die Deutschland überhaupt erst eine Zukunft ermöglichten. Auf Trümmern und mit hungernden, frierenden, schlecht gekleideten Menschen hätte sich auf Dauer keine lebensfähige Demokratie aufbauen lassen.«
Das Aufsichtsamt residiert in Hamburg am Ballindamm 39, soweit von »Residieren« die Rede sein kann. Das alte Versicherungshaus ist arg ramponiert, wenngleich die stolze Fassade erhalten geblieben ist; so erscheint Beitz sein Dienstsitz als »Potemkinsches Dorf«, und dies aus guten Gründen. Anfangs fehlen das Treppengeländer und sogar die Fensterscheiben, und mit seinen Mitarbeitern diskutiert er im einzigen notdürftig hergerichteten Sitzungsraum über ihm zunächst so wenig geläufige Themen wie »Deckungsstock und revolvierende Kredite«.
DIE KÖNIGE VON HAMBURG
Nur zwei Jahre nach seinem Einstieg sind die Briten mehr als zufrieden, und aus dem improvisierten Amt ist eine ordentliche Behörde geworden, die ihre herkulische Aufgabe, nämlich einen geordneten Übergang der Versicherungen von vor 1945 in die neue Zeit und über die Währungsreform von 1948 hinaus zu organisieren, gut gelöst hat. Beitz erhält daher das Angebot, Beamter auf Lebenszeit zu werden. Die Aussicht, sich mit 35 Jahren schon in die geordneten, voraussehbaren Lebensbahnen eines Daseins als Staatsdiener zu begeben, passt ihm freilich so wenig wie damals an der Ostsee eine Karriere als Pastor oder Bankmann. Er mag die Zwänge nicht, die Hierarchien, das Gefühl, alle wichtigen Weichen schon gestellt zu haben. Und er hat in Hamburg nun erlebt, was er mit Können, Charme und Chuzpe, mit Entschlusskraft und dem Willen zum Handeln erreichen kann, durch »den Mut zum Zugreifen«, wie er es bezeichnet. Binnen zweier Jahre ist er vom Bewohner eines Behelfsheims zum Vizepräsidenten einer Großbehörde geworden; die Familie hat längst eine passende Wohnung in Volksdorf am Rande der Stadt gefunden. Auch Elses Eltern hausen nicht mehr in der Laube. Ihr Bruder Erich kommt aus der Kriegsgefangenschaft zurück, mit Vater August Hochheim bauen sie an Ort und Stelle ein solides Haus aus Stein, und der Garten liefert Obst
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