Beruehre meine Seele
scharf.“
Diesen Blick kannte ich bei ihr. Den bekam Emma jedes Mal, wenn ihre Mutter ihr sagte, dass sie um Mitternacht zu Hause zu sein hatte. Jedes Mal, wenn ihre Schwester ihr verbot, sich an ihrem Kleiderschrank zu bedienen. Verdammt, jedes Mal, wenn unsere Lehrerin ihr in der fünften Klasse untersagt hatte, den Jungs einen Dollar abzuknöpfen, um einen Blick auf ihren BH zu werfen.
Sehr langsam und sehr bewusst atmete ich die Luft aus. „Du tust sowieso, was du willst …“
„Du kennst mich eben zu gut …“ Sie lächelte, hängte sich die Tasche über den Arm und nahm dann ihre Bücher auf. „Hey, ist dir überhaupt klar, dass du schon zehn Minuten zu spät für Chemie bist?“
„Ja. Soll mir egal sein.“ Ich stieß die Tür auf.
Emma musterte mich stirnrunzelnd. „Seit wann ist es dir gleich, ob du zu spät zum Unterricht kommst?“
„Ich musste kürzlich meine Prioritäten neu setzen.“
Sie zog die Augenbrauen noch fester zusammen. „Was soll das jetzt heißen?“
„Das heißt, dass ich es satthabe, mich immer brav an die Regeln zu halten.“
„Und?“, fragte ich, als Sabine gegenüber von mir in die Bank rutschte und sich neben Emma setzte. Der Unterricht war seit einer halben Stunde vorbei, deshalb war der Lunchhof auf der anderen Seite unseres Campus voll besetzt. Mir wäre der Schulhof oder der Parkplatz lieber gewesen, aber Sabine hatte Hunger. Und Durst. Und sie besaß hoffentlich die Informationen, die ich unbedingt von ihr hören wollte.
„Ist das meiner?“ Sie griff nach der Styroporschale mit dem gefrorenen Joghurt auf dem Tisch und löffelte genüsslich die Nüsse und Beeren ab.
„Extragroß, doppelte Portion Himbeeren.“ Ich starrte düster auf meine eigene Kinderportion. „Ich arbeite für einen Hungerlohn, das ist dir schon klar, oder? Du machst mich Pleite.“
„Das Totenhemd hat keine Taschen“, meinte die Mara, und ich runzelte die Stirn über die unwillkommene Erinnerung an meinen bevorstehenden Tod. „Wo ist Nash?“ Sie sah sich um, als müsste er jetzt einfach vor ihr auftauchen.
„Baseball.“ Nash war der erste Pitcher. Er hatte angeboten, das Training ausfallen zu lassen, fest entschlossen, die Zeit, die mir noch blieb, mit mir zu verbringen. Aber ich hatte ihm gesagt, er solle ruhig gehen. Sabine und ich – und jetzt auch Emma – hatten sowieso zu arbeiten. „Und, was hast du herausgefunden?“
„Nun … was die Privatzeit mit Beck anbelangt, hatte ich kein Glück.“ Sabine zuckte mit den Schultern. „Zur hilfsbedürftigen Mathematikschülerin tauge ich offensichtlich nicht.“
„Ist ja nicht zu fassen“, entfuhr es mir, und Em lachte. Die Mara hielt mit dem Löffel voller Joghurt auf halbem Weg zum Mund inne und funkelte mich finster an. „Wie sieht denn dein Notendurchschnitt aus?“, fragte ich.
„Glatt Eins“, entgegnete Sabine bissig, und Emma plusterte sich auf. Wahrscheinlich dachte sie gerade an ihren Eins-Minus-Durchschnitt. „Mein einziges Problem mit Mathe sind die Hausaufgaben. Das Konzept von Hausaufgaben als solches geht gegen sämtliche meiner Überzeugungen.“
„Welche Überzeugungen?“, wollte Emma wissen. „Dass du etwas Besonderes bist und deshalb nicht wie wir anderen arbeiten musst?“ Als ob sie ihre Hausaufgaben machen würde …
„Beispielsweise gegen meine Überzeugung, dass Hausaufgaben für diejenigen freiwillig sein sollten, die es sowieso können.“
„Das ist eine gute Idee“, lautete Ems Urteil. „Vielleicht solltest du für den Schülerrat kandidieren.“
„Nein, das glaube ich eher nicht“, murmelte Sabine und nahm noch einen Löffel Joghurt.
„Na schön, er wird dir also keine Nachhilfe geben“, versuchte ich, das Gespräch wieder auf das Wesentliche zurückzulenken. „Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Du kannst trotzdem mit ihm flirten und dabei versuchen, ihn zu lesen …“
„Kommt ja gar nicht infrage!“ Emma schlug mit der flachen Hand auf den gefliesten Tisch, und ich zuckte zusammen. Hoffentlich hatte sie damit nicht die Aufmerksamkeit sämtlicher umstehender Tische auf uns gezogen. „Sie beauftragst du damit, Mr Beck anzumachen, und mir erlaubst du nicht einmal, bei ihm Nachhilfe zu nehmen?“
„Ich erteile weder Aufträge noch erlaube oder verbiete ich etwas“, sagte ich, doch Sabine fiel mir mitten im Satz ins Wort.
„Kaylee ist nicht mein Boss. Herrgott, die meiste Zeit ist sie ja nicht einmal ihr eigener Boss.“
Ich verdrehte die Augen.
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