Beruehrt
nicht schlimm genug wäre. Sie kam sich vor wie am Tag ihrer Abschlussprüfungen in der Schule. Nur dass die schon morgens angefangen hatten. Wie sollte sie nur den Tag überstehen, bis es sechs Uhr abends war? Die Sache mit Helen war so betrachtet ja fast schon Glück im Unglück, weil sie dadurch weder den ganzen Tag an Grayson noch an die Radio-Sache denken musste – auch wenn sie dieser Gedanke vermutlich zehn Punkte näher an eine Eintrittskarte in die Miese-Freundinnen-Hölle gebracht hatte.
Rachel tupfte sich einen Klecks Zahnpasta auf den roten Hügel rechts unterhalb ihrer Lippe und überlegte, ob heute ein Kaffee- oder Teetag war. Aus Graysons Wohnung drang kein Laut, der Herr schlief vermutlich noch und womöglich sogar gut.
Rachel fing wieder an zu grübeln. Davonlaufen half nichts. Und zur Detektivin eignete sie sich auch nicht, wie sie sich schonungslos eingestehen musste. Sie war sprunghaft, launisch, superleicht abzulenken, und als der liebe Gott den Ehrgeiz verteilt hatte, musste sie sich gerade nach etwas gebückt haben, das ihr heruntergefallen war, denn schusselig war sie auch. Aber so kamen sie nicht weiter. Sie musste mit Grayson reden, über Amelia. Über Caleb. Über Helen. Einfach über alles. Und diesmal würde sie sich nicht einfach abwimmeln lassen, und wenn er einen heißen Strip hinlegte! Hmmmmm … Nein, keine Bilder!, verbot sie sich.
Ob sie ihn anrufen und zum Frühstück einladen sollte? Blöd nur, dass sie seine Nummer nicht hatte. Und einfach bei ihm klingeln, war wieder zu aufdringlich. Das war doch total bescheuert: Sie hatten sich geküsst, sie hatten miteinander geschlafen. Sie hatten sich ewige Liebe geschworen – na ja, nicht in Worten natürlich, aber gefühlt so gut wie – und sie hatte nicht mal seine Telefonnummer. Also musste sie sich wohl doch überwinden und nach oben marschieren. Rachel sah an sich herunter. Besser frisch geduscht und zugeknöpft bis unters Kinn. Nicht dass er womöglich dachte, sie würde ihn zu einem etwas anderen Frühstück einladen!
Wie in geheimer Mission schlich Rachel nach oben. Sie klopfte. Dann klingelte sie. Dann öffnete sie den Briefschlitz und lauschte. Kein Ton. Er schien wirklich nicht da zu sein. Wie war das denn schon wieder möglich? Einen Augenblick lang gab sie sich dem Tagtraum hin, er wäre zum Bäcker geradelt und käme gleich pfeifend mit Brötchen um die Ecke – oder würde mit einer dunklen Rose zwischen den Zähnen und der Brötchentüte in der Hand wie schon einmal auf ihrer Fußmatte sitzen … und sie fragen, ob sie auf Bora Bora heiraten wollten oder lieber auf Hawaii – und die Limousine zum Flughafen hätte er schon geordert. Sie seufzte und schüttelte den Kopf, um die Flausen daraus zu verscheuchen. Dann trat sie den Rückzug an, um sich selbst ein paar Brötchen zu besorgen. Im Erdgeschoss lief sie ausgerechnet Caleb in die Arme.
»Na, konntest du auch nicht mehr schlafen? Aufgeregt? Oder gibt’s was Neues von Helen?«
Er sah besorgt aus, wie Rachel schuldbewusst feststellte, während sie selbst den Gesundheitszustand ihrer Freundin über erotische Albträume bestens verdrängt hatte und stattdessen schon wieder mit einem gewissen Wolf beschäftigt war. Obwohl Verdrängung ja eine psychische Fähigkeit war, die durchaus ihre Berechtigung hatte, wie sie durch die Sache mit Becky gelernt hatte.
»Nein, nichts Neues«, sie schüttelte den Kopf und war beruhigt, als die Vergangenheit sich brav verflüchtigte. Sie hatte mit der Gegenwart genug zu tun. »Wann müssen wir eigentlich los?«, fragte sie. »Und du trägst nicht wirklich gestreifte Pyjamas, oder?«
»Bitte was?« Caleb sah sie an, als hätte sie ihn gerade danach gefragt, was er am liebsten im Bett anhatte. Rachel wurde knallrot, als sie begriff, dass sie genau das tatsächlich eben getan hatte. Er legte den Kopf schief. »Ich glaube, du schläfst nicht genug, Rachel. Aber komm gern vorbei und schau nach.«
»Ohhhh!« Rachel jagte den Vokal eine Oktave die Tonleiter hinauf, um ihrem Ärger möglichst viel Gewicht zu verleihen. Caleb ignorierte das.
»Ich würde vorschlagen, wir treffen uns um fünf, spielen alles noch mal durch, gehen einen Kaffee trinken und fahren dann ins Studio. Okay?«
»Wird das nicht viel zu knapp? Lieber halb fünf, ja? Ich sterbe ohnehin schon tausend Tode. Wenn wir dann auch noch zu spät kommen … das halte ich nicht aus!«
Caleb lachte und nahm Rachel in den Arm. »Komm mal her. Keine Panik, sie werden dich
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