Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
das ändert sich, als Nachrichten über das wahre Ausmaß der Judenvernichtung in Europa nach Amerika kommen. Von der antijüdischen Einstellung der Nazis wusste man, auch von Enteignungen und Lagern. Aber die massenhafte systematische Vernichtung, davon erfährt man in den Vereinigten Staaten erst Anfang 1943. Für die Familie Blücher-Arendt ist das ein Schock. »Es war«, so erinnert sich Hannah Jahre später, »als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können [...]. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen [...]. Da ist etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.« 9
Hannah versucht trotzdem, mit dem Geschehenen fertig zu werden. Sie beginnt, sich mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Sie ist überzeugt davon, dass es sich bei der Vernichtungsmaschinerie der Nazis um etwas in der Geschichte Beispielloses handelt. Aber welche Traditionen sind verloren gegangen, dass so etwas möglich werden konnte? Welche untergründigen Entwicklungen in der Geschichte haben dazu beigetragen? Hannah sucht Bibliotheken auf und liest eine Unmenge von Dokumenten und Büchern über den Nazi-Terror, über den Antisemitismus und über den Imperialismus. Das alles muss sie in ihrer Freizeit machen, da sie inzwischen einen neuen Job hat. Sie ist nun Forschungsleiterin bei der »Commission an European Jewish Cultural Reconstruction« und hat die Aufgabe, zusammen mit einem Mitarbeiterstab eine Liste jüdischer Kulturschätze in den europäischen Ländern zu erstellen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist absehbar. Amerika ist nach dem japanischen Überfall auf Peari Harbour in den Krieg eingetreten. Die Alliierten sind auf den Kriegsschauplätzen in Asien und Europa auf dem Vormarsch. Und am 6. Juni 1944 gehen sie in der Normandie an Land.
Die deutschen Exilanten in New York sind voller Zweifel. Sollen sie in die Heimat zurückkehren? Oder gibt es, nach allem, was passiert ist, diese Heimat nicht mehr? Hans Sahl erzählt, dass sich die deutschen Exilanten abends oft am Hudson River trafen, wenn am gegenüberliegenden Ufer, in New Jersey, die Lichter angingen. Man starrte in die Strömung, auf den Unrat, der da vorbeigetrieben wurde, und man hatte das Gefühl, selbst überflüssiger Abfall im Strom der Geschichte zu sein.
Auch Hannah und Heinrich unternehmen lange Spaziergänge am Hudson River und im Central Park. Über einen dieser Spaziergänge macht Hannah ein Gedicht, dessen letzte Strophe lautet:
Fischer fischen still an Flüssen –
Einsam hängt der Ast.
Fahrer fahren blind auf Wegen
Rastlos in der Rast.
Kinder spielen, Mütter rufen,
Ewigkeit ist fast.
Geht ein liebend Paar vorüber,
Trägt der Zeiten Last. 10
XI. Das radikal Böse
»Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit.«
Als Hannah Arendt im Dezember 1949 nach Deutschland reist, sie ist jetzt dreiundvierzig Jahre alt, ist ihr Totalitarismus-Buch noch nicht erschienen. Sie kommt als Vertreterin der »Jewish Cultural Reconstruction«, nicht als Buchautorin. Dennoch ist sie inzwischen eine Expertin für totalitäre Systeme und es ist für sie interessant zu sehen, was aus einem Land geworden ist, das vor wenigen Jahren noch fest im Griff eines solchen Terrorregimes war.
The Origins of Totalitarianism , das Buch, an dem Hannah Arendt über vier Jahre lang geschrieben hat, ist der groß angelegte Versuch, die Eigenart totaler Herrschaft zu beschreiben. Dabei hat sie ausdrücklich nicht nur das Nazi-Regime, sondern auch den Stalinismus in der Sowjetunion vor Augen. Beides sind für sie Formen totaler Herrschaft. Aber was zeichnet diese Systeme gegenüber anderen Diktaturen und Gewaltregimen aus?
Als Hannah und Heinrich erstmals von den Vernichtungslagern hörten, wollten sie diesen Meldungen zunächst keinen Glauben schenken, weil für sie völlig unverständlich war, welchen Sinn solche Einrichtungen haben sollten. Weder aus militärischer noch aus wirtschaftlicher Sicht war das Vernichtungsprogramm von Nutzen. Im Gegenteil, es erforderte einen ungeheuren Aufwand an Organisation und Personal und wirkte sich letztendlich auf die Kriegsführung verheerend aus. Erst allmählich begann Hannah Arendt zu verstehen, dass gerade in dieser Sinnlosigkeit die beispiellose Eigenart des Nazi-Terrors liegt.
In den Origins lehnt sie es strikt ab, Hitler mit Dschingis-Khan oder anderen Schreckensgestalten aus der Geschichte zu vergleichen. Ebenso bekommt man
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