Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
nach ihrer Überzeugung das Besondere der totalitären Politik nicht in den Blick, wenn man nach ähnlichen dunklen Kapiteln in der Geschichte sucht. Angriffskriege hat es immer schon gegeben, die Ausrottung ganzer Völker wie in Australien, Amerika und Afrika ist nichts Neues, und an größenwahnsinnigen und blutrünstigen Diktatoren hat es in der Geschichte auch nicht gefehlt. So schrecklich diese früheren Untaten und Unmenschen auch waren, so kann man sie doch noch irgendwie verstehen, das heißt, man kann Motive entdecken, auch wenn es nur so niedere Antriebe sind wie nackte Habgier oder schierer Machthunger.
Das jedoch ist bei den Todesfabriken der Nazis nicht mehr der Fall. Der gesunde Menschenverstand wird hier mit der »vollendeten Sinnlosigkeit« 1 konfrontiert. Und der Ort, an dem diese absolute Sinnlosigkeit am furchtbarsten exerziert wurde, das waren die Konzentrationslager. Die Insassen konnten ihre Qualen nicht einmal mehr als Strafe für irgendeine Schuld sehen. Ob ein wirklicher Verbrecher oder ein völlig Unbescholtener in die Gaskammer geschickt wurde, war in diesem System völlig egal. Die Vernichtung widerfuhr menschlichen Wesen, die praktisch schon »tot« waren – ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt. Und es ging nur mehr darum, bestimmte Quoten in der fabrikmäßigen Vernichtung einzuhalten. Das Verbrechen verschwand hinter der industriell durchgeführten »Säuberung«, die man routinemäßig erledigte.
Hinter dieser Todesmaschinerie sieht Hannah Arendt eine »wahnwitzige Logik« am Werk, der es darum geht zu beweisen, dass die völlig abstruse Vorstellung von der zukünftigen Weltherrschaft einer Elite-Rasse sich wirklich bewerkstelligen lässt, und zwar durch Terror und perfekte Organisation. Bei der Durchsetzung dieses Ziels waren die Menschen nur das »Material«, an dem dieser geschichtliche Auftrag zu vollstrecken war. Und von den Tätern wurde erwartet, dass sie ihre Aufgabe ohne persönliche Anteilnahme erledigten, nur aus einer unmenschlichen und übermenschlichen Treue zu einem Gesetz, das in der Geschichte und in der Natur beschlossen sein soll. Die Akteure in diesem mörderischen Programm sahen sich in einem geheimen Bund mit einer höheren Moral, der sie von einem schlechten Gewissen befreite. Wenn tausend Leichen daliegen würden, so erklärte Heinrich Himmler vor SS-Einsatzgruppen, dann sei es ein Ruhmesblatt, dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein«.
Für Hannah Arendt ist dieser Versuch, im Namen eines geschichtlichen Auftrags massenweise zu morden, so ungeheuerlich und geht so weit über alles Menschliche hinaus, dass sie zu der Vorstellung vom »radikal Bösen« greift: »[...] in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können.« 2
Um zu zeigen, dass es möglich ist, die Welt nach den Geboten einer Ideologie zu verändern, mussten die Nazis eine fiktive Welt aufbauen, die abgeschottet war gegen jede störende Erfahrung. Ihr Unternehmen bestand also darin, die Realität durch ein Wahnsystem zu ersetzen.
Diese Schein-Welt schuf sehr wohl eine Gemeinsamkeit, eine »Bewegung«, aber es war dies eine Gemeinschaft isolierter Individuen, völlig unfähig zu wirklichem gemeinsamem Handeln. Was sich von außen wie ein »Irrenhaus« ausnahm, war für die Menschen in diesem System völlig vernünftig und stimmig. Und sobald diese fiktive Welt zusammenfällt, zerfällt auch die »Bewegung«, und übrig bleiben die Menschen, die nun wieder das sind, was sie vorher waren: vereinzelte, »heimatlose« Individuen.
Die totale Herrschaft ist angewiesen auf Menschen, für die es keine gemeinsame Welt mehr gibt, sondern die nur noch durch eine Ideologie zusammengeschweißt werden. Den »heimatlosen« Menschen gibt es für Hannah Arendt jedoch schon länger, er ist ein Phänomen der Moderne. Im größten Teil ihres Totalitarismus-Buchs beschäftigt sie sich, direkt oder indirekt, mit diesem »heimatlosen« Menschen. In langen geschichtlichen Darstellungen, anhand von Charakterstudien historischer Persönlichkeiten, Anekdoten und literarischen Beispielen will sie zeigen, welche Entwicklungen ihn hervorgebracht haben. Dabei glaubt sie nicht an zwangsläufige Abläufe in der Geschichte: Nichts, was ist und was war, musste so kommen. Und nichts kann man eindeutig
Weitere Kostenlose Bücher