Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Prozent Vorsprung. Hannah ist »sehr erleichtert«. Und auch in ihrem Freundeskreis herrscht eine Aufbruchsstimmung. Der Schriftsteller Robert Lowell, der zur Vereidigung des neuen Präsidenten nach Washington eingeladen ist, schreibt ihr: »The world is green again« – die Welt ist wieder grün.
Bis zu ihrer Abreise nach Jerusalem hat Hannah noch viel um die Ohren. Sie muss nach Evanston nördlich von Chicago, um an der dortigen Northwestern University Seminare zu halten. Auch privat ist Hannah sehr gefragt. Sie bekommt oft Besuch von Bowden Broadwater; seit Mary McCarthy ihn verlassen hat, ist er aus der Bahn geworfen, sein Leben ist, wie Hannah meint, ruiniert. Mary hat Hannah gebeten, sich um ihn zu kümmern und ihn zu einer Scheidung zu bewegen. Sie will möglichst bald James West heiraten und sie findet es »einfach zu lächerlich, dass wir die hilflosen Spiegelungen anderer sind« 1 .
Hannah sieht das anders und nimmt sich die Freiheit, ihre Freundin zurechtzuweisen. Ob sie vergessen habe, so schreibt sie an Mary, dass sie Bowden genug Vertrauen entgegengebracht habe, um fünfzehn Jahre lang mit ihm verheiratet zu sein. »Oder anders gesagt: Du schreibst, es sei für euch {bim West und dich) einfach ›zu lächerlich‹, die ›hilflosen Spiegelungen anderer‹ zu sein. Wenn du die Sache überhaupt in diesem Sinne betrachten möchtest, scheint es mir augenfällig, dass ihr beide die Opfer eurer eigenen, selbst gewählten Vergangenheit seid. Das mag unbequem sein, aber es ist nicht lächerlich, es sei denn, du willst behaupten, dass deine ganze Vergangenheit nicht nur ein Fehler, sondern ein lächerlicher Fehler gewesen ist.« 2
Am 8. April fliegt Hannah Arendt nach Jerusalem. Die Stadt ist überfüllt mit Fremden, die den Prozess verfolgen wollen. Unter den Ausländern sind besonders viele Deutsche, die, wie Hannah meint, unter »schwerster Israelitis« leiden, so nennt sie die neu ausgebrochene Liebe zu den Juden. In ihrem Hotel am Stadtrand sind der Frankfurter Oberbürgermeister und seine Frau ihre Tischnachbarn. Sie haben gerade ihren Sohn in einem Kibbuz abgeliefert. Und ein Journalist fällt Hannah um den Hals, weil er es nicht fassen kann, welche Schuld die Deutschen auf sich geladen hätten. »Wie im Theater«, schreibt sie an Heinrich, »zum Kotzen«. 3
Am 11. April wird der Strafprozess gegen Adolf Eichmann vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts Jerusalem eröffnet. Hannah Arendt sitzt unter den Zuschauern. Die drei Richter unter dem Vorsitz von Moshe Landau nehmen Platz auf einem erhöhten Podium. Der Tisch vor ihnen ist bedeckt mit unzähligen Büchern und über fünfzehnhundert Dokumenten. Unterhalb der Richterbank sitzen die Dolmetscher. Und eine weitere Stufe tiefer steht ein Glaskasten, in dem sich der Angeklagte befindet. Eichmann wendet dem Publikum sein Profil zu. Am Fuß des Podiums schließlich sitzen, mit dem Rücken zum Publikum, der Oberstaatsanwalt Gideon Hausner mit einem Stab von Staatsanwälten und der Verteidiger Eichmanns, Dr. Robert Servatius, mit seinem Assistenten. Der Verteidiger hat wie der Angeklagte und die meisten im Saal einen Kopfhörer auf, denn die Verhandlung wird in hebräischer Sprache geführt.
Adolf Eichmann kommt Hannah vor wie ein »Gespenst in der Glaskiste«. Er ist ein mittelgroßer, schlanker Mann, Mitte Fünfzig, »mit zurückweichendem Haaransatz, schlecht sitzendem Gebiss und kurzsichtigen Augen, der den ganzen Prozess hindurch seinen dürren Hals zur Richterbank hinstreckt [...] und sich verzweifelt bemüht, Haltung zu bewahren«. 4 Hannah Arendt hat von Anfang an nicht den Eindruck, dass dieser Mann im Glaskasten ein »Ungeheuer« ist, vielmehr drängt sich ihr der Verdacht auf, dass sie hier einen »Hanswurst« vor sich hat. Die wichtigsten Fakten seiner Nazi-Karriere hat er vergessen; woran er sich dagegen sehr gut erinnern kann, sind Stimmungen und Gefühle. Überhaupt ist Eichmann für Hannah Arendt voll gestopft mit »Redensarten«, er könne keinen Satz sagen, der nicht ein Klischee wäre, er sei unfähig, eine Sache von einem anderen Standpunkt zu sehen als dem seinen, und immer wieder flüchte er sich in ein »erhebendes Gefühl«. »Dass er sich selber gerne öffentlich erhängen möchte, hast du vermutlich gelesen«, schreibt sie fassungslos über diese sentimentale Dummheit an Heinrich. »Mir blieb die Spucke weg.«
Gerade weil Eichmann so wenig ernst zu nehmen ist, ja lächerlich wirkt, erhalten auch die Ungeheuerlichkeiten, von
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