Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
führt die Kurse weitet Im Krankenhaus kann Hannah zunächst nicht erfahren, wie es um Heinrich steht. Die Ärzte sind ratlos und vermuten einen Tumor. Erst nach einigen Tests stellt sich heraus, dass Heinrich einen »congenitalen Aneurismus« hat, eine Arterienerweiterung im Gehirn. Sein Zustand bessert sich täglich, aber er muss sich damit abfinden, dass seine Gesundheit auf Dauer beeinträchtigt ist. Hannah teilt ihm diesen Befund mit, auch dass die Mortalität in solchen Fällen bis zu 50 Prozent beträgt. »Reg dich bloß nicht auf«, meint Heinrich, »du vergisst die anderen 50 %.« 8
Im November kann Heinrich schon wieder spazieren gehen. Der Chefarzt rät ihm, zwei Monate noch vorsichtig zu leben und dann die Geschichte zu vergessen. Nur große körperliche Anstrengung solle er vermeiden. Doch da besteht bei Heinrich keine Gefahr. Er behauptet seit jeher, ein Nachkomme des großen preußischen Feldherrn Gebhard Leberecht von Blücher zu sein, und von daher ist er der Meinung, dass seine Vorfahren schon alles geleistet hätten, was man von einer Familie erwarten könne.
Vom 11. bis zum 1S. Dezember wird in Jerusalem das Urteil im Eichmann-Prozess verlesen. Eichmann wird mit wenigen Einschränkungen in allen fünfzehn Anklagepunkten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.
Für Hannah ist das Urteil »recht enttäuschend«. Nicht wegen der Todesstrafe, daran führt für sie kein Weg vorbei. Aber man hätte, so meint sie, im Urteil deutlich machen sollen, dass man Recht sprechen muss, auch wenn man diesem Fall mit den herkömmlichen Vorstellungen von Recht und Strafe nicht gerecht wird.
Hannahs eigener Bericht über den Eichmann-Prozess wird schon mit Spannung erwartet. »Was ist aus deinem Eichmann-Artikel für den New Yorker geworden?«, erkundigt sich Mary McCarthy. »Alle fragen mich dauernd deswegen.« Aber Hannah will erst ihr Revolutions-Buch abschließen. Danach wird sie den Artikel über Eichmann in Angriff nehmen.
Am 19. März 1962 fährt Hannah Arendt, sie ist inzwischen fünfundfünfzig Jahre alt, in einem Taxi durch den New Yorker Central Park, als plötzlich das Auto von einem Lastwagen gerammt wird. Sie wird sofort in das Roosevelt Hospital eingeliefert. Ihr Zustand ist nicht lebensgefährlich, aber die Liste der Verletzungen ist lang: neun Rippen und das linke Handgelenk gebrochen, Blutergüsse, Gehirnerschütterung, Prellungen, abgebrochene Zähne, tiefe Wunden am Kopf, die mit dreißig Stichen genäht werden müssen, und eine Schädigung des Herzmuskels infolge des Schocks.
Hannah erholt sich überraschend schnell. Nach vier Tagen im Krankenhaus sitzt, läuft und liest sie schon wieder und führt einen privaten Krieg gegen die allmächtige Oberschwester, die es sich nicht abgewöhnen kann, sie dauernd »Honey« zu nennen. Am 30. März wird Hannah aus dem Krankenhaus entlassen, »auch weil ich ihnen sonst davongelaufen wäre«.
Mary McCarthy erkundigt sich besorgt, »wie die Reparaturen an dir vorangehen«. Hannah meint, sie habe ausgesehen »wie ein missglückter Picasso«, aber nun gehe es wieder. Die Haare sind ihr abrasiert, ein Zahn fehlt und sie hat eine unschöne Narbe auf der Stirn. Mary empfiehlt ihr, sich wegen der Haare eine Perücke anzuschaffen. Doch Hannah zieht es vor, sich einen schwarzen Schleier umzubinden, bis das Haar wieder nachgewachsen ist.
Am 31. März 1962 wird das Todesurteil an Adolf Eichmann vollstreckt, nachdem das Gnadengesuch abgelehnt worden ist. Eichmann wird gehängt. Seine Asche wird über dem Mittelmeer verstreut.
Hannah zieht sich nun in das Ferienhaus in Palenville zurück, um endlich den Artikel für den New Yorker zu schreiben. Dazu muss sie die Protokolle über die Verhöre Eichmanns lesen. »Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe«, bekennt sie später, »aber laut!« 9 Sie schreibt den Bericht über den Prozess in einer »seltsamen Euphorie« und mit einem Gefühl der Erleichterung. »Erzähle es niemandem«, schreibt sie an Mary McCarthy, »denn ist das nicht der eindeutige Beweis, dass ich keine ›Seele‹ habe?« 10
XIX. Revolte in Amerika
»Das ist sehr gefährlich, weil es sich um etwas ganz Echtes handelt.«
Am 28. Oktober 1964 ist Hannah Arendt im Zweiten Deutschen Fernsehen zu sehen. Der Journalist Günther Gaus interviewt sie im Rahmen seiner Sendung »Zur Person«. Gaus stellt gleich zu Beginn des Gesprächs fest, dass sie die erste Frau sei, die in dieser Sendereihe vorgestellt werde, und er fragt sie nach ihrer
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