Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
denen er berichtet, für Hannah etwas Groteskes, Komisches. Dass hier Tatsachen von unvorstellbarer Grausamkeit verhandelt werden und ein Mann dafür verantwortlich gemacht wird, der nach den Gutachten der Psychiater »völlig normal« ist – in diesem seltsamen Kontrast liegt für Hannah etwa sehr Wesentliches, das es über Eichmann und den gesamten nazistischen Totalitarismus zu lernen gilt. »Das Ganze stinknormal und unbeschreiblich minderwertig und widerwärtig«, so schildert sie ihre Gefühle und ihre Ratlosigkeit an Heinrich. »Verstehen tue ich es noch nicht, aber mir ist, als ob der Groschen irgendwann einmal fallen wird, nämlich bei mir.« 5
Vom Prozessverlauf ist sie enttäuscht. Die Anklage bietet eine Unmenge von Zeugen und Material auf, um noch einmal das schreckliche Ausmaß der Judenvernichtung vor Augen zu führen. Allerdings hat das meiste mit Eichmann so gut wie nichts zu tun. Hannah kommt es vor, als wolle man die Verbrechen der Nazis in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit ausmalen, um dadurch den monströsen, unmenschlichen Charakter Eichmanns zu beweisen. Dabei bleibt doch immer der fahrige Mann im Glaskasten, der keinen Satz richtig zu Ende sprechen kann und törichte Antworten gibt. Und wenn im Verlauf der Zeugenanhörung doch einmal konkret die Rolle Eichmanns bei der Judenvernichtung beleuchtet wird, so zeigt sich, dass er keineswegs der große Organisator der Vernichtung gewesen war, als der er hingestellt wird, sondern ein subalterner Funktionär, der, wie er immer wieder beteuert, nur seine Pflicht getan hat.
Für Hannah Arendt ist Eichmann trotzdem keine Randfigur des Nazi-Terrors, er ist ein typischer Nazi. Es liegt ihr fern, ihn zu verteidigen, er ist für sie schuldig und hat die Todesstrafe verdient. Abgesehen davon bleibt für sie jedoch die Frage, warum ein totalitäres System wie der Nationalsozialismus gerade von so oberflächlichen und gedankenlosen Persönlichkeiten wie Eichmann aufrecht erhalten wurde.
Hannah Arendt bleibt noch bis zum 6. Mai in Jerusalem. Über ihren alten Freund Kurt Blumenfeld kommt sie in Kontakt mit einflussreichen Leuten in Israel. So streitet sie fast eine ganze Nacht mit der israelischen Außenministerin Golda Meir. In den frühen Morgenstunden ist Hannah dann so müde, dass sie nur noch ein Problem hat: »Wie bringt man einen Außenminister dazu, ins Bett zu gehen; wenn er bzw. sie partout nicht will.«
Als sie am 7. Mai früh morgens nach Basel fliegt, hat sie sieben schwere Bände Unterlagen bei sich. Es sind die Protokolle jener Aussagen, die Eichmann nach seiner Verhaftung gemacht hat. Hannah will sie für ihre Reportage verwenden.
Sie bleibt eine Woche in Basel, dann reist sie weiter nach München, wo sie ein kleines, gemütliches Hotel am Englischen Garten findet. Sie will in Ruhe an ihrem Revolutionsbuch arbeiten und die hervorragenden Bibliotheken der Stadt nutzen. Über Pfingsten bekommt sie Besuch von »Annchen« Weil. Die beiden spazieren »quietschvergnügt« bei Dauerregen durch den Nymphenburger Schlosspark und als Höhepunkt ihres Stadtbummels kaufen sie für Hannah eine Minox-Kamera, mit Belichtungsmesser und »fool proof«, also narrensicher.
Mit dem gleichen Zug, der Anne Weil nach Paris zurückbringt, kommt Günther Anders von Wien nach München, um sich mit Hannah zu treffen. Ihr ist sehr mulmig zumute bei diesem Wiedersehen mit ihrem Ex-Mann. Sie ist ziemlich entsetzt darüber, wie er sich verändert hat. Seine Haare sind schlohweiß, er ist abgemagert und sieht heruntergekommen aus. In verwirrendem Kontrast zu seinem Äußeren spricht er die ganze Zeit nur von seinen glänzenden Erfolgen. Anders ist gerade dabei, einen Briefwechsel mit dem Piloten zu veröffentlichen, der die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat. Er verspricht sich davon viel Geld und Ruhm. Das kommt Hannah »leicht verrückt« vor. Die schlichte Wahrheit scheint zu sein, »dass er vis-ä-vis de rien steht, es aber nicht realisiert«. 6 Sie ist erleichtert, als Günther Anders wieder abfährt. Dafür freut sie sich umso mehr auf Mary McCarthy, die Anfang Juni von Warschau nach München kommt.
Mary hat am 1S. April James West geheiratet. Am Tag vor der Hochzeit war Wests geschiedene Frau wieder in die gemeinsame Wohnung in Warschau eingezogen, was dem Diplomaten West Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten eingebracht hat. Wahrscheinlich als Reaktion auf sein skandalträchtiges Privatleben wurde er auf eine neue Stelle in Paris versetzt. Zu allem
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