Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
her.«
» Fast ein Jahr, richtig?«
Überrascht, dass sie es noch wusste, schaute er sie an . »Genau.«
Vlain lächelte still in sich hinein. Crevi war eine fabelhafte Zuhörerin.
Um sich von ihr abzulenken, zählte er, den Blick auf den Boden gerichtet, seine Schritte. Andernfalls hätte er mit Sicherheit jede zweite Sekunde in ihre Richtung schauen müssen. Hatte er sich damals in der Kutsche, die sie nach der Beerdigung ihres Vaters genommen hatten, noch zusammenreißen können, so konnte er sich nun nur schwerlich bezähmen.
Er musste einfach hingucken!
Unvergleichlich , suchte er nach einem passenden Wort. Sie war seine Schutzbefohlene und er ihr Wächter. Es war seine Aufgabe, auf sie Acht zu geben, doch…war es nicht seine Aufgabe gewesen, ihr ein guter Freund zu werden. Bedauerlichweise musste er sich eingestehen, dass dies längst passiert war.
Er hatte gleich gewusst, dass es sich bei ihr um eine harte Herausforderung handelte, aber niemals hätte er sich träumen lassen, dass er diese Herausforderung nicht bestehen könnte. Mit jedem Blick, den sie ihm zuteil werden ließ, verlief sich der Plan mehr und mehr im Sand...
Bei den Göttern, niemals hätte er – der sich selbst als den Meister bezeichnete – sich ausmalen können, jemals etwas anderes als seine Pflicht vor Augen zu haben. Dabei gab es so viel mehr zu sehen!
Es schien ihm, als hätte er all die Jahre im Dunklen gelebt und nun wäre, einem längst erwarteten Hoffnungsschimmer gleich, ein wenig Licht in sein Leben gefallen.
Das klingt verdammt kitschig , musste er feststellen, aber gleichzeitig konnte er nicht leugnen, dass es sich ebenso verhielt. War das Leben nicht manchmal einer guten Geschichte gleich?
» Wie sind sie so?«, erkundigte sich Crevi und spielte verlegen an ihrem Perlenring herum, den er ihr geschenkt hatte. Einfach herrlich!
» Meine Eltern?« Er zog eine Augenbraue hoch.
» Ja. Ich bin ein wenig aufgeregt. Wie soll ich mich verhalten?« Ihre sommersprossige Nase verzog sich bei diesem Eingeständnis, als hätte sie es lieber für sich behalten.
» Ganz normal«, antwortete er ihr. »Genauso, wie du immer bist.«
» Was ist, wenn sie mich nicht mögen?«
» Mach dir deswegen mal keine Sorgen. Ich versichere dir, sie werden dich mögen.«
» Ich hasse es, wenn ich mich jemandem vorstellen muss…«, murmelte sie. »Ich stelle mich immer so unbeholfen an und bringe kaum ein vernünftiges Wort heraus. Ich weiß nie, was ich sagen soll.«
» Sie sind wirklich sehr nett.« Vlains Mundwinkel zuckten. »Und wenn du nicht weißt, was du sagen sollst…wieso sagst du nicht einfach, wie du heißt?«, neckte er sie.
» Das tu ich doch, aber ich klinge dabei immer so…piepsig.«
» Wirklich?«, fuhr er fort. »Also mir ist das bisher noch nicht aufgefallen.«
» Na ja…zumindest in alltäglichen Situationen.«
Er schaute sie fragend an.
»Die ersten Begegnungen mit dir, Yve und Jayden kann man wohl kaum alltäglich nennen. Weißt du, was ich meine? Das hier…ist fast schon eine Alltagssituation. Ohne das wirre Gerede von Jayden, oder dem beeindruckenden Auftritt von Yve um Mitternacht hinter einer Kaserne. Ganz zu schweigen von deiner Entführung nach der Beerdigung. – Aber das hier…«
» …ist normal. Und davor hast du mehr Angst, als vor diesen sonderbaren Situationen«, brachte er es auf den Punkt. Ihm wurde warm ums Herz. Sie ist…fantastisch. Alles an ihr. Er liebte jede ihrer Eigenarten.
» Du hast es erfasst.«
» Selbst wenn du piepsig klingen solltest, ist das kein Weltuntergang«, meinte er.
» Aber es ist mir peinlich…«
» Braucht es nicht.« Vlain sah ihr fest in die Augen. »Niemand dort wird sich Gedanken darüber machen, dass du zu leise oder nervös geklungen hast. Das bist nur du, die das denkt.«
» Aber…«
» Kein aber. Denk mal drüber nach.«
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Den letzten Rest des Weges legten sie wortlos zurück.
» Gleich sind wir da«, kündigte Vlain an.
Sie bogen in eine Straße mit mehreren Einfamilienhäusern. Einige von ihnen waren größer als die anderen und wirkten wohlhabender, doch die meisten schienen Familien gleichen Standes zu beherbergen. Es gab Fassaden in den unterschiedlichsten Farben, Backstein- und Fachwerkhäuser. Die Dächer waren geziegelt oder mit Stroh bedeckt, sogar ein Haus mit Flachdach war zu entdecken. Kleine Vorgärten ließen die Umgebung gleich freundlicher wirken und vor den wenigen Häusern, die
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