Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
merkte, dass die Gefahr noch nicht gebannt war, riss instinktiv die Hände nach oben und trat einen Schritt zurück. Dann streckte sie die Arme zu beiden Seiten aus und schloss die Augen.
Was zum Teufel tut sie da? Es fiel Vlain sichtlich schwer, das soeben Geschehene mit der jungen Frau in Verbindung zu bringen, aber offensichtlich hatte der Angriff genau dort seinen Ursprung. Außerdem schien es, als würde dem ersten ein zweiter folgen.
Angespannt versuchte er, ihr Vorhaben zu erraten und ihre Handlungsweise vorauszuahnen, was sich als schwieriger herausstellte, als er angenommen hatte. Vorsichtshalber verharrte er auf halbem Wege in ihre Richtung und blickte sich um. Lauschte auf Schritte im Treppenhaus, die das Kommen ungebetener Gäste ankündig ten.
Zu seiner Verwunderung und Irritation ließen diese auf sich warten.
Sie waren noch immer allein.
Zu zweit.
Kaum zu glauben, dass niemand das Bersten der Tür gehört hatte!
Vlain schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen.
Hielt abrupt inne, als er das Knirschen von Glas vernahm. Auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches zuckte sein Blick wild umher. Da splitterte das Fensterglas überall um ihn herum. Es klirrte hell und klar, wie ein hilfloser Schrei ausgestoßen in der dunklen Winternacht und voll der Gewissheit, dass es kein Entkommen gibt.
Er wusste nicht, wieso ihm gerade dies durch den Kopf ging. Da schossen die ersten Glasscherben von beiden Seiten auf ihn zu. Tödliche Geschosse, messerscharf. Er zog in Erwägung, sich zu Boden zu werfen, wusste allerdings im gleichen Moment, dass es ihn nicht retten würde.
Irrsinnigerweise verspürte Vlain keine Angst. Es war, als würde er die so lang ersehnte Strafe empfangen. Das hier sollte seine Erlösung sein. Endlich.
Bevor er den siedendheißen Schmerz jedoch spürte, fielen die Glasscherben nur Millimeter von ihm e ntfernt zu Boden. Enttäuschend. Ungläubig starrte er auf das gesplitterte Glas zu seinen Füßen, das sein Ende hätten bedeuten sollen. Das ihm den Tod hätten bringen müssen , gäbe es denn tatsächlich einen Gott dort oben, der für Gerechtigkeit sorgte und Schurken wie ihn bestrafte. Stattdessen stand er da, quicklebendig und unversehrt. Das Böse triumphierte. Immer. Ohne Ausnahme.
Schlagartig ernüchtert wich Vlain einen Schritt zurück. Das Glas knirschte unter seinen Schuhsohlen und jagte eine Gänsehaut seinen Rücken hinunter. Nur am Rande registrierte er, dass Crevi ihn anstarrte. Anstarrte wie das Monster, das er war. Endlich hatte sie es erkannt. Immerhin das. Wie konnte ich das zulassen? Ich hätte sie umgebracht, ich war so kurz davor, so kurz davor diesen Kampf zu verlieren. Ich bin schwach, so schwach...
Abrupt wirbelte Vlain herum und stürmte aus dem Zimmer, nur Sekunden später wurde unser Quartier hinter ihm kleiner und kleiner und die dunklen Straßen des nächtlichen Gynster Marbelles hatten ihn verschluckt.
Er merkte nicht, dass ich ihm folgte.
Zwei dunklen Schatten gleich hockten wir nur wenige Minuten später auf dem Dach eines der Türme, der zur Universität gehörte.
Ich hatte die Hände in den Ärmeln meines Flickenmantels vergraben und schaute in die stille Dunkelheit. Hier und da brannte vereinzelt Licht in den Fenstern, beschien die leblose Straße und hinterließ in meinem Herzen Einsamkeit. Schemenhafte Wölkchen tanzten vor unseren Mündern und vermischten sich mit dem Nebel der Winternacht. Die dünne Schneeschicht, die sich auf den Dachziegeln gesammelt hatte, störte uns nicht weiter. Etwaige Spaziergänger, die um diese Zeit noch das Haus verließen, würden uns für Wasserspeier, stumme Statuen halten und uns nicht weiter Beachtung schenken.
» Möchtest du reden?«
Vlain schaute auf seine Hände und schüttelte den Kopf . »Was gibt es da schon zu sagen?«
»Du weißt, du konntest nichts dazu«, meinte ich nach einer Weile, in der ich entschied, etwas so Wichtiges nicht ungesagt zu lassen. Doch kaum, dass die Worte meinen Mund verlassen hatten, musste ich ein Schnauben unterdrücken. »Verdammt, das klingt ganz schön lahm, was?«
»Angesichts der Tatsache, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach nur wenige Minuten davon entfernt war, Crevi umzubringen...«
Unsere Blicke begegneten sich.
»Ich möchte nur zweierlei wissen«, fuhr Vlain fort. »Wäre es zum Äußersten gekommen, hättest du eingegriffen? Und wirst du es den anderen erzählen?«
Ich musterte ihn einen Moment, um herauszufinden, ob er das wirklich ernst
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