Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
Schützlinge ihn baldigst verlassen würden.
Etwas unentschlossen schaute ich zu dem Fenster hinauf, das ich zu erreichten suchte. Es befand sich direkt neben der rostigen Regenrinne und war von einem weißen Rahmen eingefasst, der fast idyllisch gewirkt hätte, wäre er nicht von der Zeit zerfressen worden.
Ich musste mit Crevi sprechen und zwar augenblicklich. Länger wollte ich es nicht aufschieben. Denn so schnell wie der Mut gekommen war, so schnell verließ er mich des Öfteren wieder.
Bevor ich jedoch etwas unternahm, schickte ich mein Bewusstsein voraus, um festzustellen, ob Vlain sich in ihrer Nähe befand. Dafür schloss ich die Augen, entleerte meinen Kopf jeglicher Gedanken, indem ich mir einen schwarzen leeren Raum vorstellte und erschuf kraft meiner Phantasie ein leuchtendes Gebilde. Dass dieses Gebilde nur in meiner Einbildung existierte, spielte dabei keine Rolle. Flink schritt ich darauf zu und betrat die verworrenen Wege und Gänge der bläulich schimmernden Kugel, die aus Erinnerungsströmen bestand. Darin griff ich nach meiner Seele, dem wandelnden Teil meines Geistes, und glitt gemeinsam mit ihr aus meiner eigenen Sphäre, machte mich auf die Suche nach anderen Anwesenden. Erleichtert fand ich heraus, dass Vlain nicht mehr im Raum weilte. Ich konnte nur ein einsames Bewusstsein ausmachen.
Demnach hatte sich das Warten gelohnt.
Umständlich begann ich an der Regenrinne hinaufzuklettern. Meine Hände wurden wund, je näher ich meinem Ziel kam. Endlich befand ich mich auf Höhe der Fensterbank.
Außer Atem hielt ich einen Augenblick inne.
Gütiger Schöpfer, ich war Beobachter und kein Einbrecher!
Vorsichtig streckte ich einen Arm aus. Schwach streiften meine Finger die Fensterbank. Zu weit, um sich hinüberzuangeln. Ich nahm noch einen tiefen Luftzug, machte mich bereit und spannte sämtliche meiner Muskeln an. Dann stieß ich mich ab und flog. Unkoordiniert wedelte ich mit den Armen in der Luft, versuchte, nach irgendetwas zu greifen. Dumme Idee, schoss es mir durch den Kopf. Gerade noch rechtzeitig fand ich die Fensterbank und krallte mich daran fest.
Ein unangenehmer Ruck verdrehte mir die Schulter, als der Rest meines Körpers nach unten sackte. Puh. Unter größter Anstrengung und stetigem Keuchen schaffte ich es schließlich, mich an dem Fenstersims hinaufzuziehen.
Mit dem Ellbogen stieß ich das Fenster auf, das sich , wie vermutet, ganz leicht öffnen ließ. Die Scharniere in diesem Haus waren alt und nicht mehr die sichersten.
» Geschafft«, murmelte ich, nachdem ich sicher im Zimmer angekommen war und das Fenster hinter mir schloss.
Im Raum herrschte Stille. Nur die regelmäßigen Atemgeräusche meines Schützlings waren zu vernehmen. Ich betrachtete die staubigen Regale, den alten Schreibtisch, die düsteren Schränke und das große Doppelbett, dessen Vorhänge jedoch nicht zugezogen waren.
Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal mit einem menschlichen Wesen Kontakt aufgenommen hatte? Sofern man den heutigen Tag nicht mitzählte, kam ich auf geschätzte fünfzehn Jahre.
Langsam schlurfte ich in Richtung Bett. Dies waren die härtesten fünf Schritte, die ich seit fünfzehn Jahren tat. War das nicht Einsatz?
»Komm schon, bring es hinter dich«, murmelte ich mir selbst Mut zu.
Unschlüssig blieb ich stehen und beobachtete die junge Frau, die friedlich schlief.
Ich könnte sie ganz einfach wecken, indem ich sie anstupste. So viel war klar, doch ich scheute mich davor. Wie würde sie reagieren? Mit Sicherheit wäre sie furchtbar entsetzt.
Schließlich entschied ich mich gegen die menschliche Art, löste mich erneut aus meinem Körper und schlüpfte in Crevis Gedankensphäre. Ihre Träume bestürmten mich. Ich musste sie wecken. Ich entsandte einen gedanklichen Befehl, der sie dazu bringen würde, aufzuschrecken. Wach auf! Ich muss mit dir sprechen. Die Worte vermischten sich mit einem ihrer Traumakteure, der daraufhin meine Gestalt annahm.
Halb zurück in meinem Körper erkannte ich, wie sie erwachte.
Müde rieb sie sich die Augen.
» Hey«, sagte ich, weil ich gehört hatte, dass die Menschen das heutzutage so taten.
Crevi hielt inne, senkte die Hände und blinzelte mich an. »Hey«, erwiderte sie und suchte die Schläfrigkeit abzuschütteln, indem sie sich durch die frisch gewaschenen Haare fuhr. Ein wunderbarer Vanilleduft, wie mein scharfer Geruchssinn mir verriet. Sie hatte die Situation noch nicht erfasst.
» Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich
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