Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
Menschen waren doch weitaus schwieriger zu verstehen, als ich oft annahm. Ich musste noch eine Menge lernen.
Es dauerte nur einen Augenaufschlag und ich war in ihr Bewusstsein eingedrungen, verband mich mit ihrem Geist und die Welt schwankte.
Crevi blinzelte mich verwirrt an. »Was ist?«
»Nichts«, sagte ich.
»Du hast konzentriert ausgesehen.« Sie kniff die Augen zusammen. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass ich tatsächlich hier war. Wer war dieser geheimnisvolle Fremde, der behauptete, ihr Freund sein zu wollen und ihr nicht mehr von der Seite wich? Ich musste ihnen von Skogak aus gefolgt sein, da war sie sich sicher und wenn sie meinen Worten Glauben schenkte, begleitete ich sie schon seit Linelle Falah. Welchen Nutzen zieht er daraus, dass er uns beobachtet? Ihr wollte nicht ein einziger Grund einfallen.
Dazu kam selbstverständlich me ine unheimliche Fähigkeit, auftauchen und verschwinden zu können, als hätte es mich nie gegeben. Wie macht er das? Nicht zuletzt konnte sie den Blick nicht von meiner eigentümlichen Kleidung lassen.
Rundum wirkte ich einem Traum entstiegen.
Aber Crevi war nicht gewillt, mich einem schlechten Traum zuzuordnen. Irgendetwas an mir hatte ihr gleich gefallen. Außerdem hatte ich sie gerettet. Und dies war der Grund, weshalb sie begonnen hatte, mir zu vertrauen. Blieb ihr denn etwas anderes übrig?
Ich steckte so voller Geheimnisse, dass sie sich dieser Wirkung nur schwer erwehren konnte.
»Manchmal bin ich etwas abwesend«, gestand ich ihr und steckte die Hände in die tiefen Taschen meines alten Flickenmantels, der so abgetragen wirkte, dass er hundert Jahre alt sein musste.
»Ich in der letzten Zeit auch«, sie seufzte.
So viele Gedanken waren es noch immer, die ihr durch den Kopf schwirrten. Zu allem Übel forderte ihr Vater von ihr, sich die Fähigkeiten einer Schöpferin anzueignen! Wie hatte er sich das bloß vorgestellt?
Crevi hatte das Gefühl, erdrückt zu werden.
»Dann haben wir schon eine Gemeinsamkeit.«
»Nein, zwei«, hörte sie sich wie von selbst sagen. Der Mund klappte ihr wieder zu, als ihr bewusst wurde, dass sie unbedacht etwas geäußert hatte. »Ich meine, ich lese auch ziemlich gerne.« Unbeholfen sah sie sich in der Höhle um und machte eine vage Handbewegung. »Setz dich doch. Es ist so ungemütlich, wenn du stehst.«
Ich leistete der Aufforderung Folge und ließ mich elegant im Schneidersitz ihr gegenüber nieder. Als ihr bewusst wurde, dass sie noch immer stand, hockte sie sich hastig ebenfalls auf den Höhlenboden und winkelte die Beine an.
»Du liest auch gerne?«, griff ich den Gesprächsfaden wieder auf.
»Ja. Am liebsten Romane. Geschichten, die in der alten Zeit spielen.«
»In der alten Zeit?«
»Der Zeit des Fünfjährigen Krieges.« Crevi pustete sich eine lästige Strähne aus den Augen, die ein frischer Wind ihr ins Gesicht blies. Ihr fiel auf, dass es merklich kühler geworden war und der Sommer sich dem Ende zuneigte.
»Jene Zeit, in der der Schöpfer die Menschen verwandelte?«
»Ja. Ich lasse mich gerne von den Fähigkeiten der magischen Wesen faszinieren. Obwohl ich natürlich weiß, dass sie in Wirklichkeit längst nicht so magisch sind. Eher grausam.«
Mein Mund verzog sich kaum merklich. »Es ist gut, dass du die Wahrheit kennst.« Ich klang, als hätte ich mir die Worte zuvor genau überlegen müssen.
»Wie alt bist du?«, wagte Crevi die Frage zu stellen, die ihr schon länger in den Sinn gekommen war.
»Alt.«
»Wie alt?«
»Älter als du.«
Ich lächelte rätselhaft und in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass nur ich so lächeln konnte. Es war etwas in diesen himmelblauen Augen, das schlicht und ergreifend alt wirkte. Alt und verschleiert, sagenumwoben. Selbst Vlain, der ihr stets verschroben vorgekommen war, konnte es in dieser Hinsicht nicht mit mir aufnehmen.
Was für seltsame Menschen überall lauern , durchzuckte es sie. Vor einem Monat war ich eine ganz gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Freunden und Bekannten und nun…pflege ich mit so etwas Umgang. Sie merkte schnell, dass sie angewidert klang, obwohl sie keinesfalls Abscheu verspürte. Sie wusste es nur nicht anders zu umschreiben. Vor der Ermordung ihres Vaters hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie sich an solch merkwürdige Menschen auch nur heranwagen würde. Damals hätte sie, wären sie ihr auf der Straße begegnet, einen weiten Bogen um sie gemacht.
Aber wer hätte das nicht getan? Jeder normale Mensch hätte sich
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