Besessen
hingegeben hatte. Dieses Lächeln hatte sie schon seit einem Jahr nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen. Nicht, seit ihr letztes Kind geboren war. Kurz danach war sie krank geworden.
Nein, jetzt lächelte er aus Mitleid. Nie wieder würde er sie wie früher ansehen, auch nicht, wenn dieser „Wunderheiler“ ihr helfen konnte.
„Sehe ich wirklich präsentierbar aus?“ Marianne spielte mit der schweren Kette, die um ihren Hals lag. Wie oft willst du mich noch auf Kosten meines Vaters um die halbe Welt schleppen? Wie viele sinnlose Heilungsversuche muss ich noch über mich ergehen lassen, bevor du mich sterben lässt?
„Du bist wunderschön.“ Er lächelte und berührte den schweren Anhänger an ihrer Kehle. Ihre Haut berührte er nicht mehr. Er war gut darin geworden, ihren Körper nurdann anzufassen, wenn ein gesundheitlicher Grund es verlangte. „Auch wenn ich nicht finde, dass es dir steht. Aber es ist ein achtbares Zeichen. Niemand würde so ein Schmuckstück einfach weggeben.“
„Doch, wenn es ein Geschenk zur Abwehr von Krankheit ist.“ Das Ding war zu schwer. Ihre Schultern schmerzten. Wie würde er reagieren, wenn sie hier auf der Schwelle zusammenbrach und gleich den guten Eindruck ruinierte, den er machen wollte?
Ein Wunderheiler. Ich muss erst wieder an Wunder glauben können. Sie hatte es ihm nicht gesagt, aber sie glaubte nicht mehr an Gott. Jede Nacht, wenn er ihre Hände hielt und sie zusammen ihre Gebete sprachen, rezitierte sie nur leere Worte. Sie war zu wütend, um mit dem Herrn oder der Jungfrau Maria zu sprechen. Es galt als heilige Aufgabe, die Schmerzen Christi zu erdulden, doch an ihren schlimmsten Tagen, wenn der Krebs mit seinen ätzenden Klauen selbst ihre Knochen aufzulösen schien, beneidete sie Christus. Seine Leiden hatten nur zwei Tage angedauert. Und sie brachte es nicht über sich, die Gesegnete Mutter Gottes zu verehren. Wofür sollte Marianne sie preisen? Maria hatte den Verlust eines geliebten Sohnes ertragen müssen, aber Marianne war fünfmal durch diese Hölle gegangen, und sie hatte keines ihrer Kinder bei sich behalten können. Sie hatten in ihr den Berg Golgatha erklommen und waren in einem Blutsturz in den Himmel aufgestiegen. Die Frucht ihres Schoßes war weniger heilig, sie gebar die Krankheit, die sie jetzt von innen heraus zerstörte.
Nolen glaubte immer noch, dass Gott ihnen ein Wunder schenken würde, dass ihnen eine glückliche Zukunft nicht genommen, sondern sie nur weiter in die Ferne gerückt war. Um ihrem Mann Frieden zu verschaffen, spielte sie die Rolleder frommen Leidenden.
Die Tür vor ihnen öffnete sich. Marianne hatte angenommen, dass Jacob, Simon und Simons schöne junge Frau, Elsbeth, da sein würden. Sie hatten sich schon zweimal getroffen, als sie beide in der Villa zum Abendessen eingeladen worden waren. Oh, Nolen war viel öfter als sie hier zu Gast gewesen. Jacob hatte ein fast väterliches Interesse für ihn entwickelt, ihm Einladungen geschickt mit den Worten, er solle abends vorbeikommen und seine kranke Frau zu Hause ruhen lassen. Sie wusste nicht, was in diesen Nächten geschehen war, aber die Gruppe schöner, gelangweilt aussehender Menschen am Tisch überraschte sie. In ihren Augen lag ein seltsamer Hunger, als sie Marianne eindringlich musterten. In einem überwältigenden Moment der Klarheit merkte sie, dass etwas hier ganz und gar nicht in Ordnung war.
Doch ihr blieb keine Zeit mehr, ihre Intuition in die Tat umzusetzen und zu fliehen. Vor ihren Augen verwandelten sich die Gäste, die ihr gerade noch so beeindruckend und imposant erschienen waren, in Dämonen.
In Mariannes Welt gab es nichts mehr außer Klauen und Reißzähnen. Sie rissen und bissen in ihr Fleisch, aber sie hieß den Schmerz willkommen. Er fühlte sich so anders an als die Krankheit, die ihren Körper langsam verbrannte. Es ging schneller. Es war besser so.
Und dann lag sie im Sterben. Selbst als sie Gott schon aus ihrem Herzen verbannt hatte, bat sie ihn noch um den Tod, und jetzt wurde ihr dieser Wunsch erfüllt. Ihre Sicht schwand und kehrte wieder wie eine Welle, die über den Strand spült, aber es war nicht beängstigend. Sie war eher enttäuscht, als ihre Sehkraft sich wieder einstellte, denn sie wollte wissen, was auf der anderen Seite der Dunkelheit lag. Sie wollte wissen,ob sie für ihren Unglauben verdammt wurde, oder ob sie doch recht gehabt hatte. Der Lohn für ihre Leiden schien zum Greifen nah, doch dann wurde er ihr grausam entrissen.
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