Besessen
früheren Kräfte wiedererlangt haben? Dann würde er mich zur Schnecke machen. Oder war er noch ein Mensch? Würde ich dann mit meinem eigenen Wunsch nach Rache zu kämpfen haben?
Die letzten zwei Monate waren zu kurz gewesen, als dass ich seine Grausamkeit inzwischen hätte vergessen können. Am Ende hatte ich mehr Mitleid als Hass für ihn empfunden,aber ich war menschlicher als die meisten Vampire von sich selbst zugeben würden. Gut möglich, dass mir nach dem schmerzlichen Verlust von Nathan und der Einsamkeit und der Erschöpfung der letzten Tage die Nerven durchgingen und ich meine Wut auf den Souleater an Cyrus ausließ.
Dann gab es noch eine andere, weit erschreckendere Möglichkeit. Während ich durch das Blutsband mit Cyrus verbunden war, hatte er mich auf eine Art angezogen, die ich nicht erklären konnte. Liebe war es nicht gewesen, sondern eine dunkle Parodie dieses Gefühls. Ich war vollständig in seinen Bann geschlagen. Unsere geistige Verbindung hatte sich in den letzten Tagen immer wieder für kurze Episoden aufgebaut. Würde ich seiner gefährlichen Anziehungskraft wieder zum Opfer fallen?
Nein, ich war stärker geworden, weil ich ihn schon einmal besiegt hatte. Trotzdem vermittelte mir der Gedanke, dass ich ihn bald wiedersehen würde, nicht besonders viel Selbstvertrauen.
Aber eins nach dem anderen. Erst einmal musste ich zu ihm kommen, ohne dass ich den Fangs dabei in die Arme lief.
Die verkohlten Überreste der St. Anne Catholic Church lagen wie ein riesiges, verloschenes Lagerfeuer im Sand. Das Gebäude war bis auf den letzten Stein niedergebrannt. Wie die Fangs hier irgendjemanden versteckt hatten, ohne Schutz vor den Elementen der brennenden Wüstensonne ausgesetzt, war mir ein Rätsel.
Mir war klar, dass mich vielleicht jemand beobachtete, deshalb fuhr ich an der Ruine vorbei und schaute mich nach einem unauffälligen Ort um, wo ich den Laster abstellen konnte. Anders als in jedem Road-Runner-Comic war nirgends ein praktischer Felsvorsprung zu sehen, hinter dem ichmich ganz wie Wyle E. Coyote auf die Lauer legen konnte. Die Fangs aus der Autobahnraststätte waren sicher immer noch hinter mir her. Ich fuhr an den Straßenrand und öffnete die Motorhaube, wobei ich betete, dass die Warnblinkanlage nicht den letzten Saft aus der Batterie verbrauchte. Alle Heimlichkeit und List konnte mir nicht helfen, wenn ich Cyrus erfolgreich entführt haben sollte, mir aber dann das Transportmittel versagte, das mich vom Tatort wegbringen sollte.
Als ich mir die Dinge anschaute, die March mir mitgegeben hatte, kam ich mir schon ein wenig naiv vor. Noch nie hatte ich eine Person mit Chloroform außer Gefecht gesetzt. Gefesselt hatte ich auch nie jemanden, zumindest nicht, um ihn oder sie zu kidnappen. Ich fühlte mich wie eine Anfängerin, die an ihrem ersten Tag auf Skiern den steilen Abhang der Profiabfahrt hinunterstarrt. Nichts wollte ich so sehr wie zurück zum Anfängerhügel.
„Wo ist der verdammte Ersatzreifen?“, sagte ich etwas zu laut, für den Fall, dass mich jemand belauschte. Ich zog das leuchtende Murmelding von Byron aus meiner Tasche und ließ es in meiner Handfläche hin- und herrollen.
Sofort stieg vor mir eine leichte Verzerrung vom Boden auf, so, als ob die Luft in der Hitze flirrte. Eine Millisekunde später erfüllte Motorengeheul meine Ohren. Ich wand mich in die Richtung, woher der Lärm kam, und hätte mir fast die Augen gerieben, wenn mir nicht noch rechtzeitig eingefallen wäre, dass ich die Szenerie vor mir eigentlich gar nicht sehen sollte. Scheinbar aus dem Nichts war die Kirche wieder aus den Ruinen auferstanden. Die bunten Glasfenster wurden von innen beleuchtet und warfen ein seltsames Farbenspiel auf den Wüstensand. Einige Vampire ließen ungeduldig ihre Motorräder aufheulen, während zwei andere Gestaltenvor ihnen wild gestikulierend auf sie einbrüllten. Die Gruppe war in ein blaues, quecksilberartiges Licht getaucht.
Aufgrund des Motorenlärms konnte ich nicht hören, worüber sie sich stritten, aber sie schienen sich durch meine Anwesenheit am Straßenrand nicht ablenken zu lassen, und das war mir im Moment das Wichtigste. Sie dachten, sie wären für mich unsichtbar, was mir vollkommen recht war, solange sie nicht auf den Gedanken kamen, den Überraschungseffekt zu nutzen und sich die schmackhafte, gestrandete Autofahrerin zu schnappen. Ich tat noch ein paar Minuten so, als suche ich nach etwas hinten auf dem Laster, dann ging ich nach vorn und beugte
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