Besessene
voll«, sagte ich mit ungewohnter Entschiedenheit. »Das brennende Pfarrhaus hat alles verändert. Ich muss endlich versuchen, Genevieve zu bremsen, muss dieser ganzen Geheimnistuerei ein für alle Mal ein Ende setzen.«
Luke sah mich an und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. »Du klingst ja sehr entschlossen.«
Ich nickte grimmig. »Ich hab es viel zu lange vor mir hergeschoben. Ich weiß jetzt ganz genau, was ich als Nächstes tun muss.«
»Mum?«
Sie lag nicht mehr im Bett, war aber noch im Morgenmantel. Ich hatte mir etwas vorgemacht, als ich dachte, sieschlage sich wacker, denn der Gegenbeweis starrte mir ins Gesicht – tief liegende Augen, neue und gleichsam über Nacht hinzugekommene Sorgenfalten und ein Blick voller Angst. Sie war nervlich so überreizt, dass das geringste Geräusch sie aus der Haut fahren ließ.
»Mum, wir beide müssen miteinander reden. Du musst mir endlich sagen, was Sache ist.«
Kapitel 34
D raußen pfiff der Wind ums Haus und der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben, als wir zusammen vor dem Feuer saßen. Neben uns auf dem Tisch standen zwei unberührte Tassen Kaffee. Ich war nervös vor lauter Ungeduld, aber ich wusste, es war wichtig, Mum alle Zeit zu lassen, die sie brauchte. Und sie brauchte lange, bis sie endlich anfing zu erzählen, so lange, dass ich fast schon dachte, sie würde sich mir entziehen.
Doch schließlich holte sie tief Luft und sagte: »Als du geboren wurdest, wohnte ich außerhalb von York.«
Da ich nichts davon wissen durfte, tat ich überrascht. »Das heißt, ich bin nicht hier geboren?«
»Nein … ich habe noch studiert, als ich schwanger wurde, und habe diesen Umstand, so lang es ging, verheimlicht. Ich habe dir das nie erzählt, weil … tja … ich weiß es eigentlich selber nicht genau.«
Mum sah mich wehmütig an und ich überlegte, ob sie jetzt wohl an meinen Vater dachte, von dem sie auch nie sprach.
»Und warum hast du es verheimlicht?«
Mum ballte die Fäuste, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Meine Eltern … Gran und Granddad, warenziemlich streng und hatten sich gefreut, dass ich zur Universität gegangen bin … ich konnte es nicht über mich bringen, die beiden zu enttäuschen.«
»Und hast du damals in einem Studentenwohnheim gewohnt?«
»Nein … alle Plätze gingen an Studenten aus dem ersten Jahr. Die einzige Unterkunft, die ich finden konnte, war eben außerhalb der Stadt – eine schäbige Wohnung in einem großen alten Haus mit mindestens fünf anderen schäbigen Wohnungen … die alle feucht waren, sich von den Wänden lösende Tapeten und Mäuse als Untermieter hatten.«
Mum griff nach ihrer Tasse, trank einen Schluck und merkte gar nicht, dass sie etwas Kaffee auf ihrem Pullover verschüttete. Sie machte eine Pause und ich spürte, dass ich ihr gut zureden und meine Worte sehr behutsam wählen musste.
»Hat dieses Haus … ich meine … wäre es denn möglich, dass sich dort irgendeine Verbindung mit Grace … vielmehr mit Genevieve herstellen lässt, wie sie sich ja mittlerweile nennt?«
»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen«, antwortete Mum mit einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung. »Das Ganze könnte auch nur ein fataler Zufall sein. Ich meine, es gibt ja keinerlei Beweise … nichts weiter als einen Namen.«
Aber Mums Augen sprachen eine andere Sprache als ihre Stimme. Es gab nur eine einzige Option, um Genevieves Identität ein für alle Mal zu klären. »Würde dir denn Graces Geburtstdatum noch einfallen?«
Mum spulte das Datum sofort herunter, was mich überraschte, doch ich erklärte es mir so, dass es sich ihr eingeprägt hatte, weil Genevieves Geburtstag nur vier Tage vor meinem eigenen lag.
»Dann gibt es keinen Zweifel mehr«, entgegnete ich nüchtern. »Das ist genau das Geburtsdatum, das in Genevieves Kartei am College vermerkt ist. Genevieve und Grace sind ein und dieselbe Person.«
Mum reagierte kaum und ich vermutete, dass sie in Wahrheit nicht einmal geschockt war. Mir dagegen drehte sich der Magen um und wilde Fantasien schossen mir durch den Kopf, als ich an das Foto von dem unbekannten Baby dachte. Mum hatte vermutlich eine postnatale Depression gehabt und nicht durchschaut, was vor sich ging; Genevieves Mutter hatte sie mit einem Trick dazu gebracht, das kleine kränkliche Baby als ihres anzunehmen, während sie selbst das kräftige, gesunde Baby für sich behalten hatte; oder die beiden hatten eine Art Experiment
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