Besessene
Aber Merlin war zu groß, um mich zu stützen. Er hätte mir fast den Arm ausgehebelt, sodass ich ihn loslassen und allein ins Haus hüpfen musste, mit einem kurzen Zwischenstopp, um in der Jeanstasche nach meinem Hausschlüssel zu fischen. Auf dem Weg in unser Wohnzimmer hangelte ich mich an der Wand entlang und ließ mich dann aufs Sofa plumpsen. Das Gesicht, das mir im Spiegel über dem Kamin entgegensah, war noch schmutziger als das von Luke und ich erschrak ein wenig. Meine Wangen waren verschmiert und in meinen Haaren hatte sich ein riesiges Spinnennetz eingenistet. Merlin hatte die vergangene Nacht mit einer perfekt gestylten, glamourös aussehenden Genevieve in mörderischem kleinem Schwarzen, High Heels und Netzstrümpfen verbracht, nur um am nächsten Morgen seiner Freundin zu begegnen, die zur Kaminkehrerin mutiert war. Was aber noch viel schlimmer war – mein Handy piepste ausgerechnet jetzt, sodass ich nicht mal schwindeln konnte, ich hätte keine seiner Nachrichten erhalten.
»Tut mir so leid, dass ich deine Anrufe nicht annehmen konnte«, sagte ich in meinem charmantesten Ton. »Aber wir waren auf Lukes Dachboden und da oben konnte ich mein Handy nicht mal sehen … deshalb bin ich auch so verdreckt und … staubig.«
Merlin tat verärgert und zupfte mir eine Spinnwebe aus den Haaren.
»Du kannst unmöglich hier alleine bleiben … der Knöchel könnte ja auch gebrochen sein. Komm mit zu mir nach Hause, dann kann sich meine Mutter ihn ansehen.«
»Nein … danke, aber … wirklich … ich komme schon zurecht und muss mich erst mal waschen …«
Doch Merlin ließ mir keine Chance. Er hatte längst sein Handy in der Hand und rief den Taxiservice an. An sich gefiel es mir, dass Merlin so entschieden war, doch heute irritierte es mich, weil ich den Eindruck hatte, dass er mich gar nicht ernst nahm. Nach nicht mal fünf Minuten hörten wir ein Auto hupen und ich hüpfte neben Merlin nach draußen auf die Straße. Der Taxifahrer plauderte die ganze Fahrt mit uns, sodass wir uns nicht miteinander unterhalten mussten. Natürlich war mir nicht entgangen, dass bisher keiner von uns beiden die Party nur mit einem Wort erwähnt hatte.
Als wir das Haus betraten, war niemand weit und breit zu sehen und Merlin tat verlegen und meinte, das habe er nicht ahnen können, was ich ihm ganz und gar nicht glaubte. Er nahm mich in die Küche mit und kochte mir dort erst mal einen stark gesüßten Tee. Dann wollte er mir unbedingt den Knöchel bandagieren, doch dazu kam es nicht – denn als ich mit der leeren Tasse zum Geschirrständer hinüberhumpelte und zufällig in den Garten sah, da wäre ich fast zum zweiten Mal gestolpert. Da, wo gestern Abend noch das Zeltdach gestanden hatte, war jetzt das Gras kreisförmig platt getreten, und in den Bäumen hingen noch die Teelichte. Die Stelle, an der das Foto von Genevieve und Merlin aufgenommen worden war, erkannte ich sofort und sah auch gleich den Blick vor mir, mit dem er sie beim Tanzen angesehen hatte. Die altbekannte Messerklinge wand sich wieder in mein Herz und ich suchte Halt am Spülbecken.
»Alles okay?«
»Ja … mir geht’s gut«, log ich, bemühte mich um eine Miene, die einem Lächeln halbwegs nahekam, und drehte mich zu ihm herum.
»Wir waren für gestern Abend verabredet, Katy«, sagte Merlin vorwurfsvoll, was mich natürlich nicht ganz unerwartet traf.
»Das war doch keine Absicht, Merlin. Es ist mir einfach … was dazwischengekommen. Luke und ich hatten etwas zu erledigen und es gab dort kein Handynetz. Wir sind dann erst sehr spät zurückgekommen.«
Er machte ein mürrisches Gesicht. »Du hast dich doch die ganze Woche über schon versteckt … wir hätten uns endlich sehen können und Zeit für uns gehabt.«
Ich spürte ganz genau, wie ärgerlich er war, aber plötzlich empörte mich seine Ungerechtigkeit. Wie konnte er es wagen, mir Schuldgefühle einzujagen, wo er die ganze Nacht mit Genevieve herumgesprungen war?
»Und? Wie war die Party?«, fragte ich mit kaum verhohlener Verachtung.
Merlins Gesicht wurde finster. »Mit dir zusammen wär sie schöner gewesen, aber wir konnten sie nicht aufschieben. Das Zeltdach musste heute wieder abgenommen werden, das heißt, wir mussten gestern feiern oder gar nicht.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Er sah mich an. »Und warum habe ich dann solche Schuldgefühle?«
Ich starrte ihn an und gab zurück: »Keine Ahnung, das musst du selber wissen. Wenn du dich wegen
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