Besser
dieses Glas: Lebenslust und leichtfertige Lasterhaftigkeit zu Diskountpreisen. Egal, was dieses Glas gerade enthält, es markiert Klassenunterschiede, Einkommensklüfte und soziale Gräben so breit wie die Donau, es definiert die Differenz zwischen Oberschicht und Mittelmaß, es bemisst die Geworfenheit der Menschen in ihr Schicksal und ihre Unfähigkeit, sich diesem Schicksal zu entwinden, es zementiert die finale Unüberwindlichkeit von Klassengrenzen. Es gibt kein schlimmeres, kein abwertenderes, kein hässlicheres, kein stigmatisierenderes Glas. Ein alter Freund von Adam, ein Investmentbanker, postete kürzlich auf Facebook ein Foto, auf dem er genau so ein Glas in der Hand hält, halbvoll mit garantiert exzellentem Champagner, während er mit dem anderen Arm eine attraktive blonde Frau umfasst, eine sichtbar exquisite, teure Frau, und ich dachte mir: du arme Sau. Du traurige arme Sau. Wer sich mit so einem Glas fotografieren lässt, hat alle Hoffnung fahren lassen, das Glas zerstört, zerschneidet alles, den feinen Stoff deines Anzugs, deine kostbare Frau, die luxuriösen Möbel im Hintergrund. Wer so ein Glas in die Hand nimmt, hat aufgegeben. Wer so ein Glas in die Hand gedrückt bekommt, hat alles verloren, Stil, Würde, Selbstachtung. Niemand sollte mit so einem Glas in der Hand fotografiert werden, mit dem traurigsten Glas, dem Nuttensprudel-Glas, dem Glas der billigen, dicken Cellulitis-Huren am Tresen, gefüllt von Freiern und Zuhältern, dem Glas der traurigen Swinger. Dem Glas betrieblicher Weihnachtsfeiern, nach denen man mit schlingerndem Magen im Taxi nach Hause fährt, die Unterhose voller DNA eines Kerls, von dem man am nächsten Tag in der Kantine nicht mal mehr das Salz gereicht bekommen will. Das Glas des Selbsthasses. Das Glas der Abschiedsfeiern, nach denen es im Leben nur noch bergab gehen wird. Das Glas von Hochzeiten, denen nur das kleinstmögliche Resopal-Glück in den stinkenden, kieferimitat-beschichteten Möbeln vom Winter-Sale des XXL -Diskounters folgen kann. Das Glas verzweifelter und schon anderntags bereuter Vertrauensüberschüsse in beigegrauen, nächtlichen Resopal-Büros mit schlammfarbenen Teppichen. Das Glas der Armen, Traurigen und Siechenden. Dieses Glas kann den teuersten Schaumwein enthalten, es entlarvt dennoch den Betrug, es ist das Fanal, dass man es nicht geschafft hat. Besser man trinkt den Roederer Cristal aus der Bürokaffeetasse mit dem dummen Chef-Witz oder aus dem Zahnputzbecher als aus so einem Glas. Niemand sollte je aus so einem Glas trinken müssen. Der Mensch muss unter allen Umständen Situationen vermeiden, die einem so ein Glas in die Hand drücken, muss weiträumig allen Gelegenheiten ausweichen, die einen aus so einem Glas zu trinken zwingen könnten. Niemand, der einen letzten Rest von Würde hat, trinkt aus so einem Glas.
Ich nehme das Glas vom Tablett und schenke mir ein, bis unter den Wulstrand, schütte den billigen Sekt hinunter und schenke nach. Er schaut mir zu, eine kleine, spöttische Verwunderung in den Augen. Ich küsse ihn nicht, noch nicht. Ich berühre ihn nicht. Bleibe weg von ihm. Stehe mit meinem leeren Glas an den Tisch gelehnt, an der Wand gegenüber dem Bett, und er sieht mich an und ich sehe ihn an. Wir sagen nichts. Es ist kein angenehmes Schweigen, wir fremdeln und die Stille vibriert zwischen uns, macht meine Haut rau. Er sitzt und schaut, seine Haare fallen über die Schulter nach vorn, über sein Hemd, ein weißes, schmales Hemd, nicht das, das ich ihm geschenkt habe, seine Magerkeit zeichnet sich dadurch ab und ein Doppelrippunterhemd. Er ist ein Kind, ein nettes, schlaksiges, altkluges Kind, und jetzt steht er auf und stellt sein Glas ab, kommt auf mich zu, lächelt. Ich lächle, er bleibt vor mir stehen, er ist riesig, und ich sehe hoch zu ihm, er streicht mit seiner Hand über mein Gesicht, von meiner Stirn bis zum Hals, ganz zart, und dann lächeln wir nicht mehr, beide nicht. Und dann kommt sein Gesicht von oben auf meines zu, mit sehr ernsten Augen darin und dann
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Zweiunddreißig
küsst er mich. Er küsst mich. Wir küssen uns. Und dann weiß ich es wieder. Weiß wieder, warum ich hier bin. Dass es wurscht ist, ob es Sommer ist oder Winter, ob ich friere oder nicht und wie das Hotelzimmer aussieht. Es ist egal. Spielt keine Rolle, ob es richtig ist oder falsch. Ich weiß wieder, dass es in dieser ganzen Sache nur um eins geht: um diesen winzigen Moment. Um diesen Moment, in dem alles Reden
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