Besser
verleugnen seine Existenz. Wir glauben nicht mehr an seine Möglichkeit. Bis er uns plötzlich doch wieder erwischt.
Bevor er mich das erste Mal küsste, wünschte ich mir, sein Kuss sei prosaisch und banal, trivial und schleimig, kalter Speichel, heiße Zunge. Ein Kuss, wie jener damals zwischen Moritz und mir, in einem winzigen Moment gegenseitiger Verunsicherung, der unsere Freundschaft rettete und besiegelte. Jener Kuss sagte: Bleibt ihr mal lieber Freunde, das zündet nicht. Was ihr hier macht, sagte der Kuss, markiert haarscharf die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Technik und Erotik. Ihr, sagte der Kuss, ihr könntet noch so viel Körperflüssigkeit austauschen, Liebende werdet ihr niemals, lasst alles Amouröse fahren und verbündet euch stattdessen, werdet euch vertraut, werdet Komplizen.
Kurz bevor W mich küsste und ich ihn, wünschte ich mir, dass dieser Kuss genau das Gleiche sagen würde, dass er uns auslachen und heimschicken und diese dumme, gefährliche, zusammenkonstruierte Idee auflösen würde in Spucke und glitschiges Fleisch und in zwei Körper, die nicht ineinanderpassen. Er tat es nicht. Der Kuss schwieg. Er war ganz, ganz still. Es löste sich nicht auf. Es brachte uns zusammen und vermischte uns. Es war egal, was kommen würde, es war unverhandelbar. Es würde schön sein oder schmerzhaft oder beides, man konnte nichts mehr dagegen tun. Man konnte höchstens versuchen, es aufzuschieben, und vielleicht würde es eine Zeitlang gelingen. Aber dann würde es passieren, und es würde mit sich bringen, was es eben bringt, Geflüster, Geheimnisse, Lügen, Betrug, Unsicherheit und Verwirrung, Schuldgefühle und Sehnsucht und Sektgläser aus schäbigem Pressglas. Und den Kuss. Diesen Kuss, der mein Herz einen Augenblick stillhalten lässt, der mich erschüttert, immer wieder, genau jetzt.
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Dreiunddreißig
Ich höre es, noch bevor ich um die Hausecke bin. Hinter mir das Lärmgewurl des Brunnenmarktes, vor mir den Sound von Polizeisirenen: nicht etwa entfernter Sirenen, sondern naher, sehr naher Polizeisirenen, der Sound von Polizeisirenen, die gleich nur ein paar Meter um die Ecke eingeschaltet werden, um sich dann mit wildem Aufheulen zu entfernen. Sich zu entfernen aus nächster Nähe, aus genau der Nähe, in der ich mein Haus mit der schweren, grünen Tür weiß, meine Wohnung unterm Dach, die Kinder darin, heute von Adam aus dem Kindergarten abgeholt, und ich laufe los, während Bilder mich überschwemmen: das Bild eines Mannes, der in verwaschenen Jeans und dunklem Blouson vor der grünen Tür steht, Bilder von meinen verängstigten Kindern, bedroht von einem fremden, bösen Mann mit einer roten Narbe am Hals, Bilder meiner blutenden, zerschnittenen Kinder, meiner schreienden Kinder, der Augen meiner Kinder und der Angst darin, Bilder von Adam in seinem Blut, mit toten, aufgerissenen Augen, Bilder von einem Mann mit eingefallenen Wangen und einem Messer in der Hand, und seiner Augen: seiner Augen, wie sie aussehen, wenn er den Verstand verliert und die Kontrolle über sich. Ich kenne diese Augen, und ich kenne diesen Blick, und jetzt schaut er mitten durch mein Hirn hindurch und legt es lahm. Ich renne auf die Ecke zu, die in der einsetzenden Dämmerung grau, stumm und unbeeindruckt zurückstarrt, werfe meine Tasche auf den Rücken, renne schneller, um die Ecke und mein Herz bleibt stehen.
Und ich starre auf die Polizeiautos, die unordentlich vor meiner Haustür parken, mit hysterischen Alarmlichtern. Da stehen auch Leute herum, diese geschissenen, neugierigen Wiener, sie werden von Polizisten in blauen Uniformen von meiner Tür ferngehalten und von einem Rettungswagen weggedrängt, soeben schließen zwei Sanitäter genau vor mir dessen rückwärtige Türen, in einem choreographierten Bewegungsablauf, erst die linke Tür, dann die rechte, dann gehen die Sanitäter gleichzeitig auseinander, öffnen gleichzeitig links und rechts die Türen der Fahrerkabine, steigen gleichzeitig ein, ziehen gleichzeitig an den Innengriffen der Türen, die sich an den Wagen anlegen wie die Flügel eines landenden Vogels. Ich schreie, als der Rettungswagen den Motor startet und losfährt, mir davonfährt, mit blinkenden Lichtern, aber ohne Sirenen. Ohne Sirenen, was bedeutet das. Was bedeutet das! Er ist schon weg, als ich beim Haus ankomme. Mein Herz pocht im Kopf, so laut, dass es beinahe das Knistern des Polizeifunks übertönt, das ich jetzt höre: bedrohliches,
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