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Besser

Besser

Titel: Besser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Knecht
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aufhört und alles Lächeln, in dem es ganz still wird und ganz ernst, in dem er mich an sich zieht, mit viel mehr Kraft, als ich ihm eben noch zugetraut hätte. In dem er kein Kind mehr ist, überhaupt nicht mehr. Dieser Moment, in dem sein Gesicht meines berührt, und unsere Münder einander. Es geht um diesen Augenblick. Den Kuss. Nur um den Kuss. Den zarten, ersten Kuss. Den Kuss nach dem Sehnen. Es geht um den Brokeback-Mountain-Kuss, der nur zwischen Menschen passieren kann, die sich nicht, niemals ganz kriegen werden, weil sie nicht können oder nicht wollen oder weil die Umstände es verhindern oder die Feigheit. Der nur geht zwischen Menschen, die mit anderen leben und sich nach diesen sehnen, die dort leben und hier sind. Der eigentlich unmögliche Kuss, der seine Aussichtslosigkeit plötzlich überwindet.
    Dieser Kuss ist eine Mimose, empfindlich wie eine Eisblume am Fenster an einem kalten Morgen, wenn die Sonne aufgeht. Vergänglich wie die Berührung des Windes, wie der Moment, in dem das Heroin durch deinen Organismus rast. Dieser Kuss verträgt kein Miteinander, keinen Alltag und keine Gewöhnung, kein Wort über den Stand des gemeinsamen Kontos, anstehende Haushaltsausgaben, die Autoreparatur. Allein die Idee eines Urlaubs zu zweit oder die Möglichkeit einer gemeinsamen Wohnung vertreiben ihn für immer. Heirate, und du siehst und fühlst ihn niemals wieder. Diesen Kuss, diesen speziellen Kuss, gibt es nur für den Preis des Verzichts, nur als Belohnung für brennende, verzehrende Sehnsucht. Dieser Kuss trägt Schmerz in sich, weil man in der Sekunde weiß, dass man ihn nur jetzt in diesem Augenblick hat, und dass man sich bald nach ihm sehnen wird, so sehr, dass einem im Drogeriemarkt vor dem Regal mit den Windeln die Tränen kommen, weil aus den Lautsprechern ein Song ertönt, der mit all dem überhaupt nichts zu tun hat, aber einem mit einer Harmonie, einem Akkord die Seele blutig kratzt. Um diesen Kuss geht es, nur um die Sensation dieses Moments, um das Glück darin, das sich wie ein Virus in dir einnistet, dort schläft und dann plötzlich erwachend Euphorie oder Traurigkeit freisetzt, wann und wie es ihm gerade beliebt. Grausam ist dieser Kuss, er fordert die Konservierung der Fremdheit, denn nur wer einander fremd ist und fremd bleibt, kann sich noch einmal küssen wie zum ersten Mal und immer wieder. Und eine größere Sensation als der erste Kuss existiert nun einmal nicht auf der Welt, danach geht es nur noch abwärts.
    Der erste Kuss: Darauf leben wir hin, dafür werden wir erwachsen und hinterher trauern wir ihm für immer nach, unser Leben lang. Dann suchen wir nach ihm, für immer. Oder wir reden ihn klein, erklären ihn für unwichtig, zu etwas, das man gar nicht braucht, jetzt im Unterschied zu den wirklich wichtigen Dingen im Leben, die notwendiger, zwingender und vernünftiger sind. Die Dinge, um die man ein Leben bauen kann. Vielleicht ist dieser Kuss der Grund, wieso wir zum Heiraten nicht einfach irgendwo unterschreiben und gemeinsam heimgehen, sondern den Tag zu einem Fest aufblasen, Traumhochzeiten feiern, ihn zum wichtigsten, schönsten Tag des Lebens erklären. In Wirklichkeit schneiden wir uns an diesem Tag die Möglichkeit aus dem Fleisch, je wieder zum ersten Mal geküsst zu werden, es ist die Abschiedszeremonie für den ersten Kuss, die Bestattung der Möglichkeit seiner Wiederkehr. All das Brimborium, das ganze Feiern und Prosten und Tanzen und Beschenktwerden soll uns über das elementare Entsetzen hinweghelfen, dass wir, wenn wir das hier ernst meinen, nie wieder zum ersten Mal geküsst werden. Dass uns nie wieder jemand zum ersten Mal küssen darf. Es ist der Tag, an dem wir die Flüchtigkeit des ersten Kusses eintauschen gegen die robuste Geborgenheit eines richtigen Lebens, eines Lebens voller weiterer Küsse, die liebevoll sein mögen, zärtlich und vertraut und voller Verlangen, dankbar, verliebt und glücklich, aber niemals wieder neu.
    Aber glücklicherweise haben die meisten von uns diese Sensation vergessen. Der erste Kuss ist uns vom Fernsehen lächerlich gemacht worden, von Millionen von Filmen, von blonden Durchschnittsschicksen und feuchtfrisierten Jungärzten und von jungen Hollywoodschönheiten beiderlei Geschlechts. Wir haben ihn zu oft gesehen, er hat sich abgenutzt und bedeutet uns nichts mehr, all die Bilder haben sich über unsere eigene Erinnerung gelegt und sie sicher unter sich begraben. Der Kuss fehlt uns nicht mehr. Wir vergessen ihn. Wir

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