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Bestialisch

Titel: Bestialisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.A. Kerley
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wieder getraue, den Blick zu heben, beäugt er Jeremy. Kurze Zeit später verabschieden die Polizisten sich und brausen in einer Staubwolke die Straße hinunter. Wie zur Salzsäule erstarrt steht meine Mutter im Hof. Und Jeremy schaukelt mit einem entrückten Lächeln vor und zurück.
    Ich habe mit Jeremy nie über den Tag gesprochen, an dem unser Vater starb. Ich hatte den Mann gehasst. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, schaute ich seinem davonfahrenden Pick-up hinterher und betete zu Gott, dass er starb. Dass eine Stützmauer einbrach und ihn unter sich begrub, dass er von einer Planierraupe überfahren wurde, von einer Brücke fiel. Dutzende von tröstlichen Szenarien malte ich mir aus.
    Gott, bitte mach, dass heute eine Gasleitung explodiert und er ums Leben kommt …
    Stattdessen explodierte irgendwann mein großer Bruder. Erst Jahre später, nachdem ich bereits zahllose dysfunktionale Täter verhört hatte, begriff ich, wie die Tat meines Bruder tatsächlich einzuschätzen war: Jeremys Raserei sollte mich vor dem immer unerträglicher werdenden Wahnsinn bewahren, der garantiert in ein viel schlimmeres Blutbad gemündet hätte, über das sich die Nachbarn später – man kennt das ja – betroffen geäußert hätten.
    »Wir haben die Ridgecliffs ja nicht gut gekannt, aber sie wirkten anständig … Wir hatten nicht den Eindruck, dass Earl jemand war, der seiner Familie und sich so etwas antun würde … das ist wirklich eine grauenvolle Tragödie …«
    Jeremy ahnte, worauf es am Ende hinauslaufen würde, und ergriff die einzige Maßnahme, die ihm sinnvoll erschien. Ich bin noch am Leben, weil er meinen Vater daran gehindert hat, mich zu töten.
    Jeden Atemzug, den ich tue, habe ich Jeremy zu verdanken.
    *
    Ich breitete Jeremys Akten in chronologischer Reihenfolge aus und las zuerst den Bericht, der an dem Tag angefertigt wurde, als mein Vater starb. Einer der ersten Beamten am Tatort war County Police Officer Jim Day. Obwohl seine Vorgesetzten – Sergeant Willis Farnsworth, Lieutenant Merle Baines und Captain Hollis Reamy – auch vor Ort waren, hatte er den Bericht geschrieben. Vielleicht hatten Farnsworth, Baines und Reamy keine Lust gehabt, sich um den Papierkram zu kümmern. Dass höhergestellte Beamte derlei Tätigkeiten auf ihre Untergebenen abwälzen, ist nicht ungewöhnlich. Auf der anderen Seite hatte Day vielleicht ein Auge für die Details und verfügte über das entsprechende Vokabular.
    Allem Anschein nach, schrieb Day, wurde der Dickdarm unten durchtrennt und wie ein Seil aus dem aufgeschnittenen Bauch des Opfers gezogen. Dieses mehrere Meter lange »Seil« lag auf dem Boden. Ein Stück weiter unten stand: Es sieht aus, als hätte der Täter eine Niere mit voller Wucht in einen Baum geschleudert, wo sie wie eine Wassermelone platzte. Am Boden neben dem Stamm haben wir Nierenpartikel gefunden.
    Kurz vor der Schlussbetrachtung merkte Day an, der Tatort legt den Schluss nahe, dass der Täter seiner blinden Wut Ausdruck verliehen, eine Grenze überschritten, eine Entscheidung getroffen und entsprechend gehandelt hat.
    Nach einer Stunde hatte ich Jim Days Beschreibungen und Einschätzungen durchgelesen und war schweißgebadet. Meine Hände zitterten. Die detaillierte Schilderung des Verbrechens machte mich fertig. Beim Lesen hatte mir die Bitte, Gnade walten zu lassen, in den Ohren geklungen, und der kupferartige Geruch des vergossenen Blutes war mir in die Nase gestiegen. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie mein Bruder meinen Vater mit dem Messer aufschlitzte – mit dem Messer, das ich normalerweise für die Mortadella benutzte.
    Ich tupfte mir den Schweiß von der Stirn und schob den hohen Aktenstapel beiseite. In den anderen Mappen waren die Fälle der fünf weiblichen Mordopfer dokumentiert, die Jeremy auch auf dem Gewissen hatte. Damit würde ich mich später beschäftigen.
    Oder morgen.
    *
    In der einsetzenden Abenddämmerung fuhr Jeremy Ridgecliff mit der U-Bahn nach Downtown. Er tat so, als würde er schlafen. In Wahrheit musterte er sein Gegenüber, einen teigigen kleinen Mann Anfang vierzig mit schütterem Haar. Er trug Khakis und eine Strickjacke aus grauer Wolle. Sein nervöser, unsteter Blick wanderte immer wieder zu der abgewetzten Aktentasche, die unter seinem Arm klemmte.
    Da man mit Speck bekanntlich Mäuse fängt, hatte Jeremy den Nachmittag in der Bibliothek verbracht und sich in der Abteilung, wo die politischen Fachzeitschriften und archivierten Zeitungen auslagen, auf

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