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Bestialisch

Titel: Bestialisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.A. Kerley
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kein Faible für ihn hatten.
    »Ich werde wohl noch ein paar Tage hierbleiben, Harry.«
    »Wieso? Ich meine, die eine Minute bist du noch hier, und die nächste bist du …«
    »Jeremy ist abgehauen«, sagte ich. »Er ist in New York.«
    »Was?«
    »Irgendwie ist es ihm gelungen, Vangie Prowse zu belabern, dass sie mit ihm hierher fährt. Und jetzt ist Vangie tot, Harry. Jeremy hat sie und eine andere Frau umgebracht und mit den Leichen grauenvolle Dinge angestellt. Der Junge dreht völlig durch.«
    »Gütiger Gott«, flüsterte Harry. »Wie, verflucht noch mal, ist er rausgekommen?«
    »Keine Ahnung. Vermutlich mit List und Tücke. Vielleicht ist er an eine Waffe rangekommen, oder er hat eine Sicherheitslücke entdeckt. Eigentlich darf so etwas gar nicht passieren, aber er hat es geschafft. Hör mal, Harry, ich weiß, dass die Staatspolizei den Fall übernehmen wird, aber könntest du dich bitte in der Klinik umhören und in Erfahrung bringen, wie …«
    »Hast du es ihnen gesagt, Cars? Hast du ihnen gesagt, dass er dein Bruder ist?«
    Mir schnürte es die Kehle zu. Ich hatte das Gefühl, als würde ich unter den Ereignissen des Tages zusammenbrechen. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich schnappte nach Luft, wischte das Gesicht auf der Schulter ab. Wartete, dass Harry mich in der Luft zerriss, mir sagte, dass ich mich wie ein Idiot oder noch dümmer aufführte.
    Stattdessen meinte er: »Sag mir, was ich hier für dich tun soll, Bruder.«
    Wir besprachen uns ein paar Minuten lang. Nach dem Telefonat schleppte ich mich mit einer dicken Papiertüte Richtung Ausgang; sie enthielt Kopien aller Faxe, die Waltz von der Alabama State Police bekommen hatte. Auf dem Weg nach draußen entdeckte ich Alice Folger allein in einem dunklen Besprechungszimmer. Sie fixierte einen Fernsehbildschirm, als hinge ihr Leben davon ab. Da ich weder den Bildschirm sehen noch etwas hören konnte, fragte ich mich, ob in den Nachrichten ein Beitrag über das NYPD gesendet oder über die Urteilsfindung in einem Fall informiert wurde, den sie bearbeitet hatte.
    Im Schneckentempo durchquerte ich den Flur und riskierte einen Blick zum Monitor, auf dem ein Mann im Anzug auf farbige Linien über einer Landkarte deutete.
    Warum verfolgte Alice Folger wie hypnotisiert einen Bericht des Wetterkanals?

Kapitel 6
    Ich kehrte ins Hotel zurück, legte die Unterlagen auf den Tisch und schob sie ganz weit nach hinten bis an die Kante. Da ich es nicht über mich gebracht hatte, den Cops die Wahrheit zu sagen, plagten mich Schuldgefühle, die mir nun wie ein zentnerschwerer Stein im Magen lagen. Und es gab noch einiges mehr, das auf meinem Gewissen lastete: Obwohl ich mich in Kriminalpsychologie gut auskannte, hatte ich mich nie im Detail mit den von meinem Bruder begangenen Taten auseinandergesetzt, weil ich fürchtete, Jeremy nach dem Aktenstudium für ein Monster zu halten und in ihm nicht mehr das gepeinigte Kind zu sehen, das seinen Vater nach einem Jahre währenden und unvorstellbaren Martyrium tötete …
    Vor ein paar Tagen bin ich zehn geworden. Jeremy ist sechzehn. Eines schönen Tages – ich habe in einem der Forts gespielt, die mein Bruder und ich im Wald hinter unserem Haus gebaut haben – laufe ich aus dem Forst und sehe, dass die Polizei da ist. Auf der Kieszufahrt vor unserem Haus steht ein Beamter, sein Kollege sitzt im Streifenwagen hinter dem Steuer. Der Cop auf der Zufahrt fixiert meine Mutter, die oben auf der Veranda steht. Jeremy sitzt auf der Hollywoodschaukel, ebenfalls auf der Veranda. Sein nachdenklicher Blick wandert zwischen dem Polizisten in dem Streifenwagen und dessen Kollegen auf der Zufahrt hin und her.
    Der Polizist hat die Mütze abgesetzt und hält sie auf Schritthöhe in Händen. Ich schätze ihn auf fünfzig. Er kommt mir unglaublich alt vor. Als er seine verspiegelte Sonnenbrille abnimmt, wirkt seine Miene sorgenvoll. Obwohl er mit gesenkter Stimme spricht, kann ich das eine oder andere verstehen.
    »Tut mir leid, Ma’am …«
    »Der Gerichtsmediziner ist jetzt da. Sie brauchen sich jetzt nicht solch einem …«
    »Wir werden diesen Irren finden, Ma’am, diesen …«
    Ich schaue zu dem Streifenwagen hinüber. Die Wagentür steht offen. Ich betrachte den zweiten Polizisten, der ein gutes Stück jünger ist. Er legt einen Film in eine von diesen Kameras, wo man zusehen kann, wie das Foto sich entwickelt. Er legt den Apparat weg und mustert mich. Seltsamerweise schäme ich mich und senke den Blick zu Boden. Als ich mich

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