Bestialisch
als müsse er etwas erledigen, das ihm so wichtig war, dass ihm das Verlangen aus jeder Pore quoll. Besser kann ich es nicht in Worte fassen. Ob ich den Eindruck hatte, dass er mir etwas antun wollte? Nein. Trotzdem schwang da etwas in seiner Stimme mit, das mir riet, es mir mit ihm besser nicht zu verscherzen.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Als ich mir sicher war, dass er mir nichts tun würde, interessierte es mich, wie geschärft seine Sinne waren. Wir lauschten, rochen und unterhielten uns darüber, was man alles hören, schmecken, riechen konnte, also über Dinge, von denen die meisten Leute nichts mitbekommen, obwohl man es eigentlich gar nicht ignorieren kann. Nachdem wir eine Weile lang miteinander gesprochen hatten, entschied ich, hierherzukommen und seine Nachricht zu überbringen. Vielleicht war sie ja wichtig, obwohl mir das nicht so richtig einleuchtete.«
»Was genau hat der Mann gesagt, Mr Parks?«, fragte ich ihn.
Wieder legte er die Stirn in Falten und sprach ganz langsam, damit ihm kein Fehler unterlief. »Richten Sie Mr Ryder aus, er möge daran denken, was George Bernard Shaw über die geistige Gesundheit in Amerika gesagt hat.«
Ich schloss die Augen. Mein Verdacht hatte sich bestätigt. Aus den Worten des alten Mannes hörte ich Jeremys Ausdrucksweise heraus. Waltz starrte mich an. Seine Lippen formten stumm die Frage: Ridgecliff? Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Waltz rannte zur Tür. »Shaw. Geistige Gesundheit, Amerika. Ich werde das googeln und sehen, was es damit auf sich hat.«
Mit einer Handbewegung bedeutete ich ihm, sich wieder an den Tisch zu setzen. »Lassen Sie nur, Shelly. Ich kenne das Zitat.«
»Und wie lautet es?«
»Eine Anstalt für geistig Gesunde wäre in Amerika leer.«
Mr Parks kicherte, nahm seinen Hut vom Tisch und setzte ihn schräg auf den Kopf, was ziemlich keck wirkte.
»Ich hatte den Eindruck, als würde dieser Mann sich für Sie interessieren, Mr Ryder. Stehen Sie sich vielleicht nahe?«
»Was bringt Sie denn auf die Idee?«
»Er hat etwas Nettes über Sie gesagt. Er meinte …« Parks legte eine Pause ein, bis er sich haargenau an die Worte meines Bruders erinnerte. »… Sie wären ›stets der Held zu Wasser und zu Land‹. Das klingt doch nett, oder?«
*
Steifbeinig, aber ziemlich hektisch scheuchte Waltz mich in sein Büro. Meine Achseln waren klitschnass, und ich konnte nur hoffen, dass ich meine Sportjacke nicht durchschwitzte. Nur um mir zu beweisen, dass er dazu in der Lage war, hatte Jeremy mir eine Nachricht geschickt. Und ich konnte heilfroh sein, dass er darin nicht auf unsere Verwandtschaft angespielt hatte.
Waltz schloss die Tür und ließ die Jalousie herunter. »Wir können ein paar Leute in den Washington Park schicken. Vielleicht ist Ridgecliff ja noch in der Gegend.«
Ich winkte ab. »Da ist er nicht mehr, Shelly. Jeremy Ridgecliff unterlaufen solche Fehler nicht, das können Sie mir glauben.«
Waltz ließ sich auf den Stuhl fallen und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. »Ridgecliff hat Ihr Foto im Watcher gesehen. Woher hätte er sonst wissen sollen, dass Sie in New York sind? Aber warum schickt er Ihnen eine Nachricht?«
»Wir haben eine seltsame Beziehung zueinander entwickelt. Für ihn bin ich gleichzeitig Freund und Feind.«
»Freund?«
»Nicht im herkömmlichen Sinn. Während unserer Gespräche konnte er mit mir reden, ohne kritisiert zu werden. An solche Persönlichkeiten kommt man nämlich nur heran, wenn man sie reden lässt und keine Kritik übt.«
»Und warum betrachtet er Sie als Feind?«
»Ein Teil von ihm hasst mich, weil es mir gelungen ist, ihn zum Sprechen zu bewegen. Er hat mir gegenüber aufgemacht und mich hinterher dafür gehasst. Diesen Leuten ist es unerträglich, wenn sie schwach sind, Shelly. Sie brauchen das Gefühl, stark zu sein und alles unter Kontrolle zu haben.«
Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, kam aber ziemlich nah an die Wahrheit heran: Mein Bruder strebte nach der absoluten Kontrolle, auch über mich.
Und nun, wo er auf freiem Fuß war, hatte er mehr Kontrolle als in den vergangenen vierzehn Jahren. Die Vorstellung, wie er dies für sich nutzen würde, machte mir Angst.
»Wie lange ist es her, dass Sie mit ihm gesprochen haben?«, wollte Waltz wissen.
»Das ist schon ein paar Jahre her.«
Ich hatte auch vor neun Wochen mit ihm geredet, aber das vergaß ich geflissentlich zu erwähnen. Nachdem ich den anstehenden Besuch immer wieder verschoben hatte, war
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