Bestialisch
heute Jeans und ein T-Shirt von der NYU. Zu diesem Outfit passte das tief in die Stirn gezogene Halstuch, mit dem er versuchte, eine Beule von der Größe einer halben Zitrone zu kaschieren. Jedes Mal wenn ihn jemand neugierig musterte, warf er dem Betreffenden einen finsteren Blick zu. Waltz stand im Türrahmen.
»Nicht sein Typ?«, fragte Folger fassungslos. »Sie reden gerade so, als würde er seine Opfer bei einer gottverdammten Partnervermittlungsagentur buchen.«
»Jeremy Ridgecliff tötet Frauen, die große Ähnlichkeit mit seiner Mutter haben. Das ist seine Rache dafür, dass sie ihn im Stich gelassen und nicht gegen den sadistischen Vater aufbegehrt hat. Darum waren all seine Opfer weiß – wie seine Mutter. Als Latina passt Bernal nicht in sein ethnisches Muster.«
»Ethnisches Muster?« Folger verdrehte die Augen. »Ich verrate Ihnen mal, wo ich hier ein Muster sehe: Die Frau wurde verstümmelt. Die Spurensicherung hat auf dem Boden eine ganze Menge unterschiedlicher Haare und Fasern gefunden. Die Gebärmutter wurde entfernt. Was wollen Sie denn noch, Ryder? Dass Ridgecliff eine Visitenkarte am Tatort hinterlässt?«
»Sie verstehen nicht, worauf ich hinauswill, Lieutenant. Ich habe nicht behauptet, Ridgecliff sei nicht der Mörder. Ich sage nur, dass er von seinem bisherigen Muster abweicht.«
Folger kniff das linke Auge zu. »Sie meinen also, dass er anfangs Mami umgebracht hat und inzwischen alle Frauen als Substitut taugen? Dass jede Frau, die dort draußen herumläuft, den Mistkerl triggern kann?«
»Zumindest sollte man davon ausgehen«, meinte ich.
»Heilige Scheiße.« Folger schüttelte ungläubig den Kopf. Ich trat ans Fenster, legte die Hände auf die Fensterbank und hob den Blick. Schwere graue Wolken zogen auf und versprachen Regen. Im Raum hinter mir war es mucksmäuschenstill. Alle hatten an der These zu knabbern, dass unser Verdächtiger möglicherweise mit jeder Frau in New York auf Kriegsfuß stand.
Bullards laute, um Aufmerksamkeit heischende Stimme beendete das Schweigen.
»Anscheinend haben alle vergessen, dass Ridgecliffs erstes Opfer, Prowse, in einem Video verlangte, man solle nach ihrem Tod Ryder informieren. Bin ich eigentlich der Einzige hier, der das ziemlich merkwürdig findet?«
»Was ist denn daran merkwürdig, Detective Bullard?«, fragte Folger.
»Prowse stand total unter der Fuchtel von Ridgecliff, oder? Wenn jemand anderer Meinung ist, soll er sich mit Handzeichen melden.«
Als sich niemand rührte, fuhr Bullard fort:
»Ich habe die Berichte aus der Klinik, dem Institut oder wie auch immer sich diese Einrichtung schimpft, gelesen. Ridgecliff ist zwar irre, aber wahrscheinlich auch der Einstein unter den Verrückten.«
»Und worauf wollen Sie hinaus, Detective?«, drängte Folger ihn.
»In der Videoaufzeichnung wirkt Prowse verängstigt. Was, wenn Prowse die Aufzeichnung nicht aus freien Stücken gemacht hat? Was, wenn Ridgecliff mit einem von seinen heiß geliebten Messern hinter der Kamera stand?«
»Möglich wäre das«, sagte Folger und nickte. »Vielleicht sogar wahrscheinlich. Und?«
»Dann wollte nicht Prowse, dass Ryder hier auftaucht, sondern Ridgecliff.«
Plötzlich richteten sich alle Blicke im Raum auf mich, was mir höchst unangenehm war. Auf einmal sah ich Bullard in einem anderen Licht. Sein Einwand war berechtigt. Er mochte vielleicht ein Arschloch sein, aber auf den Kopf gefallen war er nicht.
»Fällt Ihnen dazu etwas ein, Ryder?«, fragte Folger mit verschränkten Armen. »Könnte es sein, dass Ridgecliff Sie hier haben will?«
»Eine gute Theorie«, sagte ich und nickte Bullard zu. Ehre, wem Ehre gebührt. »Doch wenn Ridgecliff so clever ist, wieso will er mich dann in New York haben? Immerhin war ich derjenige, der auf ihn gekommen ist.«
»Er hat Ihnen diesen Blinden geschickt«, meinte Bullard. »Aus welchem Grund?«
»Nachdem das Foto im Watcher erschienen war, wusste er, dass ich in der Stadt bin, und musste einfach Kontakt aufnehmen. Das war pure Hybris.«
»Pure was?«
»Überheblichkeit«, mischte Waltz sich ins Gespräch ein. »Soziopathen sind Egomanen und müssen immer wieder beweisen, dass sie klüger als alle anderen sind. Das gehört zum Krankheitsbild.« Er legte eine kurze Pause ein. »Ridgecliff meldet hier einen Anspruch an.«
»Er führt mich vor«, erklärte ich. »Er will mir unter die Nase reiben, dass er weiß, dass ich hier bin, und gibt mir damit zu verstehen, dass ich nichts ausrichten kann.«
Jeremy
Weitere Kostenlose Bücher