Bestialisch
Gegenstand. Keine Fotos von Frau, Kindern, Hund, Wagen. Keine lustigen Tassen oder Briefbeschwerer, die ihm jemand geschenkt hatte. Keine Zeichnungen von den Enkelkindern an den Wänden. Nicht mal ein Foto mit einem selbst gefangenen Fisch. Dieses Syndrom kannte ich schon. »Wenn so einer in Rente geht, ist er drei Monate später tot«, meinte ich. »Das Revier ist sein Leben.«
Waltz nickte. »Viele halten einen Bullen, der nicht voll einsatzfähig ist, für eine schwere Bürde. Keine Einheit wollte ihn haben. Auf der anderen Seite wollte ihn auch niemand nach Hause schicken.«
»Und darum wurde Cluff Folger von oben aufs Auge gedrückt?«, fragte ich. »Hatte sie kein Mitspracherecht?«.
»Nee. Folger hat Cluff angefordert.«
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Das NYPD ist Cluffs Leben, und Folger sorgt dafür, dass das auch so bleibt. Dass er nicht in ein Provinzrevier in irgendeinem Außenbezirk abgeschoben wird, sondern hier bei uns in Manhattan arbeitet, im viel beachteten Zentrum des Geschehens. Cluff ist kein Ballast, sondern ein Profi, der halt ein bisschen länger braucht. Folger hat sich für ihn eingesetzt und ihn gerettet.«
Ich hörte mehrere Stimmen und sah, wie Folger im hinteren Teil des Büros einem Schreibtischtäter Feuer unter dem Hintern machte.
»Dann steckt also mehr in ihr, als man auf den ersten Blick vermuten mag?«
Waltz musterte Folger mit einer Mischung aus Irritation und Bewunderung. »Wenn Sie mich fragen, deckt die Lady nicht ihr ganzes Blatt auf.«
Folger rannte in ihr Büro und warf die Tür zu. »Was steht heute an, Shelly?«, fragte ich.
»Meine Schwester hat heute Geburtstag und beschlossen, dass ich ihr einen von diesen schicken Töpfen schenke, die sie bei Macy’s in der Haushaltswarenabteilung gesehen hat.«
Ich hielt meine verknitterte Papiertüte mit den Unterlagen zum Fall hoch.
»Gibt’s bei Macy’s auch Aktentaschen?«
»Da gibt es fast alles. Waren Sie schon mal dort?«
»Vor ein paar Jahren war ich mit einer Freundin hier zu Besuch. Sie hat einen ganzen Nachmittag in dem Kaufhaus verbracht, und ich war im Museum of Modern Art.«
»Unterschiedliche Interessen?«, meinte Waltz und zog sein Jackett an.
»Sie stand auf die Upper Park Avenue und ich auf Chinatown. Sie wollte ins Le Bernadin und ich ein indisches Curry in einem Schnellrestaurant. Wir sind getrennt nach Hause geflogen.«
Zehn Minuten später stellte Waltz sein Auto im Parkverbot auf der 34. Straße ab. Wir verabredeten, uns in einer halben Stunde wieder zu treffen. Waltz machte sich auf die Suche nach dem Geburtstagsgeschenk für seine Schwester, und ich sah mir die Aktentaschen an. Obwohl mir ein Modell für vierhundert Dollar aus weichem braunem Leder am besten gefiel, gab ich mich lieber mit einer wesentlich günstigeren Tasche aus Stoff zufrieden.
Ich bezahlte, warf einen Blick auf meine Uhr und hielt auf den verabredeten Treffpunkt am Eingang zu, als ich Waltz vor einem Parfümstand entdeckte. Aus einiger Entfernung beobachtete ich, wie er einen Zerstäuber hochnahm, Parfüm auf sein Handgelenk sprühte, den Arm zum Trocknen hin und her schwenkte und dann an der Stelle roch.
Kurz darauf schlenderte er mit hängenden Schultern den Gang hinunter. Ich eilte ihm hinterher, hielt kurz an dem Parfümstand an und griff nach dem Flakon, für den Waltz sich interessiert hatte. Ich drückte einmal auf den Zerstäuber, schnupperte und folgte Waltz, während mir eine leise Ahnung durch den Kopf schoss und mein Herz deutlich schneller schlug.
KAPITEL 16
Harry Nautilus winkte dem ortsansässigen Polizisten zu, der ihn hierher gebracht hatte, und betrat das Cottage in Gulf Shores, eine weiße Kiste mit roten Fensterläden. Das Häuschen gehörte zu einer Feriensiedlung auf dem Intracoastal Waterway.
Nach Harrys Dafürhalten war Prowse’ Ferienhäuschen ganz typisch für diese Gegend: große Fenster mit Blick aufs Wasser, schlichte Möbel, kleine, aufgeräumte Küche. An der Wand hing ein heiteres, farbenprächtiges Poster vom alljährlichen Gulf Shores Shrimp Festival. Draußen tuckerte ein Krabbenkutter langsam übers Wasser. Die Schleppnetze an den Auslegern flatterten im Wind.
Als Nautilus die Tür zum angrenzenden Raum öffnete, stockte ihm kurz der Atem. Er spähte in Vangies kleines Arbeitszimmer, wo sie allem Anschein nach auch Privatpatienten empfangen hatte. Das Mobiliar – ein Schreibtisch, ein ergonomischer Stuhl, in der Ecke ein Polstersessel und eine Couch – verwunderte
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