Bestiarium
absolut erstaunliche Festung schließen lassen - ein Schloss, prachtvoller als alles, was er je gesehen hatte.
Sobald sie in der Bibliothek Platz genommen hatten, bot James Martin eine Tasse Tee an, die Martin jedoch dankend ablehnte. Er stellte fest, dass James ihn noch immer insgeheim studierte und zögerte, sein eigentliches Anliegen zur Sprache zu bringen.
»Nicht unbedingt das, was man eine Farm nennt, oder?«, versuchte Martin, das Eis zu brechen.
»Hm, ja. Manchmal nennen wir es so. Es ist offensichtlich keine Farm im eigentlichen Sinn. Aber von ›Château‹ zu reden, weckt womöglich nur ungewünschte Aufmerksamkeit. Vor allem in diesem Teil von Frankreich.«
»Was geht hier vor, Onkel? Warum all diese Mätzchen? Was ist mit meinem Vater geschehen?«
»Ja, natürlich.« James studierte seinen Neffen wirklich eingehend. Er sah viele der Gesten, die auch Edward benutzt hatte, die gleiche Stimme, das markante Kinn, die ausgeprägten Gesichtszüge, wenn auch jetzt unrasiert und mit einer Ausstrahlung von Ruhelosigkeit. Aber wie ruhelos? Kann man ihm vertrauen?
»Die Geschichte«, begann er, »hat einen tödlichen Schlag gegen die meisten biologischen Korridore in Frankreich geführt, die die unbehelligte Passage wandernder Säugetierherden zugelassen hätten«, begann James und beobachtete seinen Neffen und wartete auf gelangweiltes halbes Schließen der Augen oder auf eine völlig verwirrte Miene.
Martin blinzelte nicht einmal, jedoch hatte er keine Ahnung, was sein Onkel mit dem soeben Gesagten ausdrücken wollte.
James fuhr fort: »Trotz seiner eigenen turbulenten Geschichte, in der deine Familie eine bedeutende Rolle spielte, schaffte es der Morvan, diesen einen Mikrokosmos zu erhalten und zu schützen, und dafür sei Gott gedankt.«
»James, ich habe Jura studiert, internationales Recht. Ich bin kein Biologe. Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Stimmt.« James nahm eine Tabakspfeife aus einem kleinen Kasten auf dem Tisch, stopfte sie mit einer Mixtur süßlich riechenden libanesischen Tabaks aus einem Lederbeutel, den er in der Tasche hatte, und zündete sie an.
»Rauchst du?«
»Nicht mehr.«
James verfolgte, wie Rauchkringel zu den goldenen Verzierungen an der Stuckdecke aufstiegen, die irgendein osteuropäischer Handwerker vor einigen Jahrhunderten in Form einer in voller Blüte stehenden Blume geschaffen hatte.
Dann gab James sich einen Ruck. »Mein Junge, was ich dir gleich erzähle, mag völlig unmöglich erscheinen. Aber dieses Unmögliche ist jetzt in großer Gefahr.«
»Fang schon an.«
Max Hardiman saß in einem Gästesalon, drei Türen weiter einen imposanten mit Spiegeln verkleideten Korridor hinunter. Er hatte ein Glas Scotch in der Hand und betrachtete die Wände des seltsamsten Herrenhauses, das er je gesehen hatte, und er hatte mehr als genug gesehen, während er Martin zu den Hunderten von Landgütern im Vereinigten Königreich chauffiert hatte. Dieses war anders.
Er blickte aus den vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern und bemerkte eine Bewegung. Etwas kam aus dem Wald und hielt sich auf der inneren Seite eines grünen Wallgrabens zwischen dem Château und einer Mauer auf, die in beiden Richtungen über die Berge verlief und im Wald verschwand.
Was ist denn das? Max stand mit dem Scotchglas in der Hand auf und ging langsam zu den Fenstern, die eine vier bis fünf Meter hohe gläserne Flügeltür bildeten. Es war ein ganz besonderes Tier, ein sehr großes. Er starrte es mit einer Mischung aus Angst und Verzauberung an.
»O mein Gott!« Er schrie unterdrückt auf und wich zurück. Das Tier hatte ihn gesehen und kam jetzt schnell auf das Château zu.
Ein Elefant!
Je näher die Neugier des Riesen diesen heranlockte, desto größer kam er Max vor, der versuchte, sich im hinteren Teil des Zimmers zu verstecken. Er ließ das Scotchglas klirrend auf den Fußboden fallen, während er zur Zimmertür eilte und auf den Flur hinaustrat.
»Nicht bewegen«, warnte James, nachdem er das sich nähernde Tier von einem Fenster in der Bibliothek aus gesehen hatte. Er war sofort mit seinem Neffen im Schlepptau zur Rettung losgeeilt.
»Was ist das?«, stammelte Max.
»Ihr Name ist Alice. Sie ist ein Elefant. Gewöhnlich völlig zahm.«
»Ein Elefant?« Martin brauchte ein paar Sekunden, um sich an jedes Bild zu erinnern, das er im National Geographic oder in Animal Planet gesehen hatte. »Sind Sie sich ganz sicher?« Er blickte zu dem Tier, das nun keine drei Meter mehr
Weitere Kostenlose Bücher