Bestiarium
schließen. Diese in alle Winde zerstreuten Nachkommen hatten genügend Zeit und das angesammelte Vermögen zur Verfügung, um der Illusion zu frönen, dass sie ihren Einfluss auf eine Welt ausüben konnten, die sich grundlegend verändert hatte. Die meisten von denen, die noch übrig waren, waren alte Männer, die auf einer Hantelbank nicht einmal fünfzig Pfund stemmen konnten, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.
Der Gärtner, ebenfalls ein alter Mann, war von anderem Kaliber gewesen. Seine Ermordung war ein Zeichen und schickte ihnen eine eindeutige Nachricht, von der Raoul hoffte, sie bewirke, dass sie ihren geplanten Beutezug widerstandslos durchführen konnten. Raoul war sich der Tatsache bewusst, dass einer der Bewohner des Châteaus Engländer war. So viel hatte er sich zusammengereimt, nachdem er Monat für Monat beobachtet und gewartet und seine Zeitungen in einer Stadt in der Nähe gekauft hatte, die regelmäßig zwecks Befriedigung grundlegender Bedürfnisse von einem gewissen James Olivier aufgesucht wurde.
Raoul hatte versucht, alles über diesen Mann in Erfahrung zu bringen. Aber er war nicht zu fassen gewesen. Sein Leben war ein großer leerer Fleck. Keine geheimen Bankkonten. Seinen Namen über Google zu suchen half ihm nicht weiter, sondern erbrachte eine Flut anderer Personen gleichen Namens - Professoren, Schauspieler, Schriftsteller. Nicht den Gesuchten. Und Einheimische konnten nichts Brauchbares beisteuern. Er sei wohl älter als siebzig, wahrscheinlich ein Bauer. Kenne sich in Vogelarten aus. Rasiere sich nie. Fahre einen alten Wagen. Kaufe nur wenige Lebensmittel. Und das war auch schon alles.
Als Raoul das erste Mal die Überwachungskameras lahmlegte, sah er die beiden älteren Männer. Einer versuchte, sie zu reparieren, der andere hielt eine Leiter fest. Er kannte jetzt seine Gegner, zumindest glaubte er es.
»Wir treffen uns in Paris. In einem sicheren Versteck. Ich habe es auf Wanzen untersucht. Es ist laut dort. Viel Betrieb. Dort versammeln wir uns. Übermorgen um Mitternacht. Wir müssen die Pläne noch einmal durchgehen. Am Donnerstag gehen wir rein«, sagte Raoul.
Berndt und de Bar wollten das Ganze endlich hinter sich bringen. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass es Tote geben würde.
Und keiner von ihnen wusste, was Raoul wirklich vorhatte.
KAPITEL 18
L ass mich dir mit deinem Gepäck helfen. Dein Zimmer ist die Treppe hoch, dann den Korridor hinunter, auf der rechten Seite. Es wird dir gefallen. Auch ein Badezimmer gehört dazu«, sagte James und führte seinen Neffen über die gewundene Marmortreppe in den ersten Stock, wo ein Zimmer auf das andere folgte und - wie Martins erfahrener Blick ihm verriet - für eine Wohnfläche von fast zweitausend Quadratmetern verblichener Pracht sorgte. Er hatte ähnliche Anwesen in England, von Kent und Sussex bis nach Norwich und zum Lake District, verkauft, aber keines war so betagt gewesen.
»Wie alt ist dieses Haus genau?«, fragte Martin, während er die Treppen hinaufstieg.
»Die Fundamente stammen aus einer Zeit, ehe die Römer hierherkamen, und zwar deutlich vorher. Früher, Anfang des 10. Jahrhunderts, war es ein wichtiges Kloster. Und was das Grundstück selbst angeht, nun, Land ist Land. Ziemlich ewig, würde ich sagen.«
Martin warf sein Gepäck auf das große Bett aus der Zeit Ludwigs XIV. Ein einzelner hoher, schmaler Kleiderschrank aus der Zeit der Revolution (es hieß, dass er Verfolgten gelegentlich als Versteck gedient hatte) stand ein wenig schief vor der Wand. Der Schrank musste dringend repariert werden, besaß aber noch immer, wie Martin auf einen Blick feststellte, seine originalen Metallbeschläge.
Er begab sich dann ins Bad, um sich nach drei Stunden Fahrt ein wenig frisch zu machen. Es war ein Badezimmer, das mit nichts Modernerem ausgestattet war als mit jenen Armaturen und Sanitäreinrichtungen, wie sie Ende der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts in Gebrauch gewesen waren, jedoch befanden sich die Fliesen und die Badewanne in einem perfekten, fleckenlosen Zustand.
Während er in den Korridor zurückging, fiel ihm auf, dass die Wände ziemlich kahl waren. Luxuriöse Seidenvorhänge bedeckten die Fenster, doch an den Wänden waren nur ein paar Fotografien und in Regalen vereinzelte Bücher zu sehen.
Im Parterre war es das Gleiche. Martin fragte sich unwillkürlich nach dem Grund für diese sparsame Ausstattung in jedem Zimmer, an dem sie vorbeigingen. Das Äußere hatte auf eine
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