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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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schoss mit einer Geschwindigkeit von tausend Metern pro Sekunde heraus und breitete sich über sechs wunderschöne grüne Papageien, die auf der Lichtung eines alten Wäldchens im ersten Sonnenschein des kühlen Morgens hockten. Der kleine Vogelschwarm reagierte zu spät auf den lauten Gewehrknall.
    »Erwischt!«, knurrte der schwer atmende Mann.
    Mit knappen und fast brutalen Bewegungen sammelte er die ersten Trophäen ein, denen noch viele folgen sollten: Conuropsis carolinensis, die Papageienart, die erst vor Kurzem in Nordamerika als ausgestorben erklärt worden war. Das Tier war auch unter der Bezeichnung Karolinasittich bekannt. Der Vogel war vom Mississippi bis nach New York anzutreffen gewesen, aber im Februar 1918 starb das letzte Exemplar, ebenso wie Martha, die letzte Wandertaube (beide Insassen des Zoologischen Gartens von Cincinnati), jedenfalls glaubten das die meisten Ornithologen.
    Berndt und Gouge de Bar beobachteten aufmerksam, wie große Vogelschwärme und Tierherden auf den Gewehrschuss reagierten und in alle Richtungen flüchteten, während ein halbes Dutzend Männer ihre spezielle Beute suchten.
    Innerhalb weniger Minuten hatten sie einen neuen Teil der Mauer zerstört, nicht mit Dynamit, sondern mit Laserstrahlen, die sich nahezu lautlos durch die Steine gebrannt hatten. Ein Mann brauchte sich nur ein wenig zu bücken, um durch das Loch zu gelangen. Einem großen Säugetier würde es nicht so leichtfallen, vor allem dann nicht, wenn es in Panik war.
    »Geht langsam hinein. Behaltet stets Sichtkontakt zu dem Mann vor euch«, sagte Berndt und erinnerte sie noch einmal an die erprobte Methode, um Beutetiere einzufangen und für den Abtransport vorzubereiten.
    Ihre Fahrzeuge standen keine vierhundert Meter von der Maueröffnung entfernt im Wald. Kein Weg führte zu dieser Stelle, aber Lance, Max und Edouard konnten die Unruhe von ihrem Standort etwa dreihundert Meter oberhalb der Wilderertruppe und der flüchtenden Tiere deutlich hören.
    Lance gab mit der Hand ein Zeichen. Er hörte, was seine Ohren als das unverkennbare Herumschleichen der ehrwürdigsten, unerklärlichsten Bewohner des Wildparks identifizierten. Es war genau genommen nicht das, was er hörte, sondern das verblüffende plötzliche Verstummen jeglichen Geräusches, das zum Anschleichverhalten der sieben Säbelzahntiger gehörte, deren Vorfahren seit einer Million Jahre oder länger in diesen Wäldern lebten.
    »Dort!«, flüsterte er und unterdrückte bei sich wie auch bei den beiden Männern an seiner Seite jeglichen Drang, ihre Schusswaffen in Anschlag zu bringen.
    »Sie greifen niemals von sich aus an«, fügte er hinzu. Es war nicht das erste Mal, dass er diese riesigen Raubkatzen zu Gesicht bekam. Während James nur selten so weit in das Gelände vorgedrungen war und es stets vorgezogen hatte, sich nicht allzu weit vom Château zu entfernen, hatten Lance und gelegentlich auch Edouard die Fallensysteme und Überwachungsanlagen überprüft, die den Schutz des gesamten Geländes gewährleisten sollten. Lance war des Öfteren mit Tieren jeder Größe und Art in Berührung gekommen und war Zeuge des Wunders ihrer Fortpflanzung geworden.
    Eine weitere Salve Gewehrschüsse hallte durch das Labyrinth von Tälern und Senken und löste die Flucht weiterer Tausender Kreaturen aus, von denen einige gefangen und in ihr sicheres Verderben abtransportiert wurden. Kreaturen mit einer geradezu gespenstischen Ähnlichkeit mit Tieren vergangener Zeiten wie dem Archaeopterix, dem Saola, dem Auerochsen, der Saiga, dem Moa, dem Quagga, dem Putao-Muntjak, dem Hyacinth- und Spix-Ara, einem Flachlandgorilla, einem Eskimo-Brachvogel (das letzte Mal 1923 in freier Wildbahn gesichtet) und einer Kreatur ohne Namen ...
    Lance verfolgte, wie die Männer ihre jeweilige Beute bargen und wegschafften. Er zielte, und Max folgte seinem Beispiel.
    »Noch nicht«, sagte Lance. Die Männer kamen näher.
    »Worauf warten wir?«, fragte Max, erstaunt über das, was sich vor ihnen abspielte.
    »Noch nicht ...«
    Plötzlich bohrte sich ein stählerner Pfeil in den Hals Edouard Reveres, der neben ihnen stand. Ehe Max auf das grässliche Ereignis reagieren konnte, schoss Lance dem Schützen ins Gesicht, aber weitere Männer stürzten sich auf sie, gefolgt von weiteren Tieren.
    Tiefer unter ihnen, auf einer Straße, auf der sich der Nebel nur langsam auflöste, wurde der Lärm auch von Hubert Mans und den beiden Polizisten aus Nevers gehört. Sie hatten die SUVs entdeckt.

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