Bestiarium
Nun mussten sie entscheiden, ob sie in den Wald eindringen oder auf Verstärkung warten sollten.
Pater Bruno war seit Stunden wach, ging auf und ab, dachte nach, betete zu Gott und blätterte in dem Erinnerungsbuch der Geheimen Bruderschaft, die seiner Kirche angegliedert war. Sie waren Benediktiner eines uralten Ordens, nämlich des ursprünglichen, mit versteckten Gewölben in Le Thoronet, Silvacane, Clairmont und Fontenay, direkt unter den Überresten von Cluny. Und am ehrwürdigsten und sichersten von allen ... in einem geheimen antiken Garten mit vier Flüssen und niedrigen Bergen, dessen Schutzwälle von unsichtbaren Alabastersäulen gestützt wurden und der Welt trotzten, und darin ein Baum, in dessen schrundiger Rinde und verästelter Telemetrie alles an Verheißung enthalten war, was man in diesem Leben hier nötig hatte. Nun spürte er, wie das Schicksal die Hände nach ihm ausstreckte, und dachte, dass es für ihn nur einen Weg gab, um sich von der Last zu befreien, die ihn zu erdrücken drohte.
In seinem Schlafzimmer in der steilen Wand der Pfarrei neben seiner Kirche betete er die Prim und telefonierte mit dem Anrufbeantworter seiner Nichte, sagte einige leise, kurze Worte und legte wieder auf.
Vergib mir, Vater, flehte er.
Für eine halbe Ewigkeit starrte er auf das Fläschchen mit den Tabletten. Eine Plastikflasche Bergquellwasser. Drei Kissen. Eine Flucht vor allem, das er, wie er meinte, angerichtet hatte.
Aber während er nach der einfachen Lösung griff, gelangte sein Geist zu der Erkenntnis, dass nichts Einfaches daran war. Es war überhaupt keine Lösung, sondern ewige Verdammnis. Er konnte der Wahrheit nicht entfliehen, nicht in dem Glauben, dem er sich verschworen hatte.
Jetzt geriet er in echte Panik. Er hatte bereits seine Nichte angerufen. Er musste sie unbedingt sofort wieder anrufen, eine zweite Nachricht hinterlassen und sich für das entschuldigen, was er in der ersten Nachricht gesagt hatte.
Aber was habe ich gesagt? In seiner Verwirrung konnte er sich nicht genau daran erinnern. Nur dass er im Begriff sei, Selbstmord zu begehen. Dass das Château am Eingang zum ewigen Leben stand und ein Geheimnis barg, für das Tausende, ja Zehntausende gute Christen ihr Leben geopfert hatten. Waren diese Tode, die Kreuzzüge, die Bettelmönche, die alles aufgaben, auf irgendeine Weise anders zu bewerten als sein eigenes Opfer in dieser Nacht?
Er hörte den lauten kehligen Ruf einer Krähe draußen vor seinem Fenster. Einer Krähe! Er öffnete den Vorhang seines Schlafzimmerfensters und blickte hinunter auf den Kirchhof, während ein großer Vogel wegflog. Dort auf der Fensterbank lag eine Scheibe Brot. Er starrte sie entsetzt an und murmelte ein Gebet zum heiligen Benedikt.
Aber kein vernunftmäßiges Herangehen verhalf ihm zu dem inneren Frieden, den er brauchte, um wieder auf den rechten Weg zu finden. Er schloss das Fenster, ging zum Nachttisch neben seinem Bett, griff zum Telefon und wählte die Nummer eines alten und vertrauenswürdigen Kollegen.
KAPITEL 43
W ährend Martin in zügiger Fahrt nordwestlich von Genf durch die Außenbezirke von Bourg rollte, konzentrierte Margaret sich weiterhin auf die dreieinhalb Seiten voller Signaturen und versuchte, irgendeine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Aber es war eine Aufgabe, die sogar ihre beträchtlichen Kenntnisse und Erfahrungen überstieg. Was hatten Ulisse Aldrovandi, Engelbert von Nassau, Willem Vrelant, Catherine de Clèves und der berühmte Naturforscher Linnaeus gemeinsam in einer Gruppe zu suchen? Sie erkannte den Namen von Sir Thomas Browne, aber wer waren Thomas de Cantimpré, Konrad van Megenburg, William Turner, John Ray, Christopher Mernet, Francis Willoughby und jemand namens Skippon? Sie hatte absolut keine Ahnung. Ulisse malte fantastische Tiere, Mischwesen - teilweise wahre Monster -, einige echt, andere der Fantasie entsprungen. Und Engelbert von Nassau war einer der bedeutendsten Bibliophilen der Renaissance. Das Geheimnis hinter der Namensauswahl stellte ein wahres Monstrum an möglichen Kombinationen dar, die sich aus dem Inhalt von drei armseligen Blättern Papier in ihrer Hand ergaben.
Aber die Verbindung beziehungsweise ihr Nichtvorhandensein wurde noch rätselhafter. Sie las ihrem Mann die Namen laut vor: Antonio Vivaldi, Beethoven, Buffon, der berühmte französische Naturalist Le Remède de Fortune - eigentlich keine Signatur, sondern eine Beschreibung, auch dies ihr bekannt; der anonyme
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