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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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instinkthafte Neigung der Selbstzerstörung und Verjüngung demonstriert.
    In diesem Moment spürte er deutlich die Nähe eines Raubtiers, das zwei- oder dreimal größer war als ein Wolf.
    Nur eines zeigte sich, während ein halbes Dutzend der großen Katzen, die seit mehr als zwölftausend Jahren als ausgestorben galten, die Eindringlinge umzingelt hatte — Männer, die dem Wald bereits Schaden zugefügt hatten, indem sie den Pakt brachen, der seit Ewigkeiten für ein natürliches Gleichgewicht sorgte. Das Alphatier erblickte Pater Bladelin zuerst, während er beobachtete, wie die Sonne mit ihren warmen Strahlen die Nebel auflöste, die auf der Hügelkette lagen. Das mächtige, elegante Tier knurrte, aber Bladelin rührte sich nicht. Er wusste, dass die Wildkatzen in seiner Nähe waren, herumstreunten und taten, was die Natur ihnen vorschrieb. Die anderen Tiere des Rudels hielten sich zurück und waren nicht zu sehen. Aber diese eine große Raubkatze war ein Paradebeispiel evolutionärer Perfektion, genauso Furcht einflößend, wie Fossilienjäger sie in zahllosen Bildern seit den ersten Knochenfunden in Deutschland dargestellt hatten. Mit ihren oberen Fangzähnen konnte sie die Lederhaut jedes großen Pflanzenfressers mit Leichtigkeit zerfetzen.
    Im späten Pleistozän hatte die Raubkatzenfamilie der Machairodontinae eine noch erstaunlichere Tötungsmaschine hervorgebracht. Es war ein einzigartiger Abkömmling der Art namens Smilodon, die berühmteste der Säbelzahnwildkatzen. Sie besaß größere Klauen als der afrikanische Löwe, einen kurzen Schweif und die bei Weitem größte Ausdauer und kräftigste Muskulatur, und sie entwickelte die höchste Geschwindigkeit aller Kreaturen der letzten sechzig Millionen Jahre. Das Tier war so groß wie ein Löwe, hatte jedoch einen schwereren und kompakteren Körper und konnte sich mindestens genauso schnell fortbewegen wie sämtliche erste Bestäubungsinsekten inklusive der Tarantula-Wespe.
    Die großen Wildkatzen hatten bei der Jagd auf die menschlichen Eindringlinge ein Verhalten gezeigt, das lange unterdrückt gewesen war. Sie umkreisten ihre Opfer zu zweit und schlugen mit einer Wucht zu, die einer Geschwindigkeit von fast dreihundert Stundenkilometern entsprach. Danach schleiften sie ihre Beute in die Erdlöcher. Es war ein erlerntes Verhalten. Sie wogen durchschnittlich vier- bis fünfhundert Pfund. Die Fangzähne waren gut zehn Zentimeter lang. Die Pistolenhand des ersten Wilderers wurde innerhalb einer Mikrosekunde abgetrennt, ehe sie den Abzugshebel betätigen konnte; der Schädel wurde zerquetscht und sein Leib zerfetzt. Nacheinander fielen die Wilderer den Fangzähnen und den Klauen zum Opfer. Dies war keine Mahlzeit, sondern ein Akt der Rache, der die Erde mit dem Blut menschlicher Individuen tränkte.
    Pater Bladelin erkannte die Spuren menschlichen Bluts, als er nicht lange nach dem Massaker dasselbe Gelände überquerte. Er wusste, dass die Wildkatzen die Oberhand gewonnen hatten wie bereits mehrmals in der Vergangenheit. Er wusste dies aus den Geschichten, die Henry Olivier, der Urgroßvater von James und Edward, erzählt hatte: Legenden, die Bladelins Eintritt als Ritter in den Orden vom Goldenen Vlies wie auch den der anderen Mönche unten in der Senke begleitet hatten.
    Und nun erhielt der gemeinschaftlich errungene Sieg der Tiger seine endgültige Bestätigung, als Lance' einsame Gestalt hinter einem Mammutbaum hervortrat. Er nickte dem Pater zu, der mit dem Handzeichen des Ordens antwortete, und tauchte im Nebel unter.
    Zwanzig Minuten später richteten sich alle Blicke auf den alten Mann. Bladelin näherte sich mit der Waffe in der Hand dem Polizeiwagen. Er wusste, dass er dafür sorgen musste, dass niemand auf das Gelände vordrang. Falls die Polizei dorthin gelangte oder irgendetwas Ungewöhnliches zu Gesicht bekäme ... er wagte gar nicht erst, über die möglichen Folgen nachzudenken. Innerhalb der Mauer ließ sich nicht über Moral diskutieren. Leben und Tod hatten dort eine völlig andere Bedeutung als außerhalb der Mauer. Er musste eine Ernsthaftigkeit demonstrieren, die der Haltung, Würde und Überzeugungskraft eines Großmeisters entsprach.
    »Lasst die Waffen fallen!«, rief er. »Es ist vorbei.«

 
    KAPITEL 47
     
    P ater Bladelin, das böhmische Breitschwert aus dem 15. Jahrhundert in seiner alten Lederscheide an der Seite, ging auf Jean-Baptiste Simon zu. Er hielt das Gewehr mit gesenktem Lauf in der Hand. »Sie erinnern sich noch an

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