Bestien
»Nein«, sagte er
kleinlaut, »das ist sicher richtig.«
»Soweit es mich persönlich und dieses Unternehmen als
Ganzes betrifft«, sagte Harris im bedeutungsvollen Ton
unumstrittener Autorität, »haben wir eine moralische
Verantwortung, weil der Unfall hier geschah. Für Ricardo
Ramirez wird gesorgt, und es wird dabei nicht gespart. Was er
benötigt, soll er bekommen, solange er es benötigt. Sollte es
zum Schlimmsten kommen, ist das Unternehmen bereit, ihm
eine lebenslängliche Rente zu zahlen.« Wieder begegnete sein
Blick Blakes Augen. »Seine Mutter sagt, Rick wollte Medizin
studieren und Arzt werden. Er hat die Noten dafür, und er
scheint auch den Antrieb zu haben.« Er schwieg einen
Moment, dann sagte er: »Vergegenwärtige dir das, wenn du
darüber nachdenkst, wie ein Treuhandvertrag aussehen sollte.
Ich denke mir, daß ein Junge wie Rick seine Mutter gut
behandelt haben würde, alles in allem. Für den Fall, daß er es
nicht kann, werden wir es tun.«
Blake Tanner war verblüfft. Die Implikationen finanzieller
Art, die sich aus alledem ergeben mochten, konnten einen
enormen Umfang annehmen. »Hast du mit Ted Thornton
darüber gesprochen?« fragte er.
Harris lächelte dünn. »War nicht nötig«, sagte er. »Es ist
Teds Politik. Und es ist eine Politik«, fügte er hinzu, »mit der
ich hundertprozentig übereinstimme. Tarrentech hat diese Stadt
gemacht. Wir sind auf die eine oder auf die andere Weise für
alles verantwortlich, was hier geschieht. Und wir scheuen diese
Verantwortung nicht.«
Als er Harris’ Büro verließ, hatte Blake Tanner eine neue
Achtung vor dem Unternehmen und den Menschen, für die er
arbeitete. Silverdale, begann er zu ahnen, sollte nicht bloß ein
neuer Schritt in seiner Laufbahn sein.
Es mochte durchaus geeignet sein, sein Leben zu verändern.
Nach der Schule ging Mark Tanner allein nach Haus. Er hatte
vor dem Gebäude zwanzig Minuten auf Linda Harris gewartet,
und als sie sich nicht hatte blicken lassen, war er schließlich
um das Schulgebäude zum rückwärtigen Teil gegangen. Als er
dort um die Ecke gekommen war, war die Tür zum
Umkleideraum der Jungen aufgesprungen, und die Footballmannschaft war in Übungskleidung auf das Spielfeld
hinausgetrabt. Er hatte Robb Harris ein Hallo zugerufen, aber
Robb hatte ihn entweder nicht gehört oder ignoriert. Er wollte
seinen Ruf gerade wiederholen, als der Trainer herauskam, und
Mark begann zu begreifen, daß vielleicht weder das eine noch
das andere zutraf. Denn als der Trainer auf die Mannschaft
zuging, die in Reih und Glied Aufstellung genommen hatte,
machte er plötzlich halt und nahm einen der Jungen in der
zweiten Reihe ins Visier.
»Fünfzig Liegestütze!« brüllte er. »Sofort.«
Der Junge warf sich an Ort und Stelle zu Boden und begann
zu pumpen. Erst als er mindestens zehn Liegestütze ausgeführt
hatte, wurde Mark klar, wessen der Junge sich schuldig
gemacht hatte.
Er hatte einem der Mädchen von der Exerziermannschaft
zugewinkt, die auf dem benachbarten Platz übte. »Heilige
Scheiße«, murmelte Mark vor sich hin. Er wollte sich
abwenden und hörte Linda seinen Namen rufen. Aufblickend,
sah er sie winken.
Er ging hinüber zu der Stelle, wo sie mit drei anderen
Mädchen und zwei Jungen wartete. »Ich hatte nach dir
Ausschau gehalten.«
»Wir müssen üben«, sagte Linda. »Wir sind Anführer beim
Applaus. Und dann muß ich in die Bücherei. Willst du auf
mich warten?«
»Kann nicht«, sagte Mark. »Muß meiner Mutter beim
Auspacken helfen.« Er zögerte. »Übt ihr jeden Tag?«
Linda lächelte kopfschüttelnd. »Dreimal die Woche, und
einmal am Abend vor einem Spiel.« Ihre Augen begegneten
einander, und Mark, der sich erröten fühlte, wandte sich weg.
»Also, dann bis morgen«, murmelte er.
Er sah nicht, daß Linda ihm nachlächelte, noch sah er, daß
Jeff LaConner vom Footballplatz herüberstarrte.
Statt auf dem kürzesten Weg nach Haus zu gehen, nahm
Mark die Colorado Street zum Einkaufsbezirk, um sich dort ein
wenig umzusehen. Er ging langsam und betrachtete die Häuser,
an denen er vorbeikam, und überlegte, aus welchen Winkeln
die verschnörkelten viktorianischen Bauten sich am besten
aufnehmen ließen. Die meisten von ihnen waren nach seinem
Befund ein Bild wert. Die reinsten Kalenderbilder, dachte er
bei sich.
Er dachte darüber nach, was man tun müßte, um Aufnahmen
für Kalender zu verkaufen, dann legte er die Idee zu künftiger
Verwendung ab.
Eine Viertelstunde später kam er zu dem kleinen, von
Weitere Kostenlose Bücher