Bestimmt fuer dich
Ton, als überbrächte sie eine gute Nachricht. »Und zwar mit einem Taxi, wenn man den Aussagen von ein paar Heimbewohnern glauben kann.«
Lukas schloss entnervt die Augen. Eigentlich hatte er herausbekommen wollen, wo er Rosanna finden konnte. Stattdessen präsentierte ihm das Schicksal nun noch ein anderes Problem.
»Wieso haben Sie nicht besser aufgepasst?«, regte Lukas sich auf.
»Wir sind kein Gefängnis«, erwiderte die Heimleiterin. »Außerdem waren Sie es ja wohl, der ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, von wegen: ein letztes Mal zum Ferienhaus seiner Eltern. Ist Ihnen eigentlich klar, dass er schon die Reise nicht überstehen wird?«
»Dann halten Sie ihn davon ab!«, schimpfte Lukas und drehte sich von Lars weg, der sich über seine Hilflosigkeit sichtlich amüsierte.
» Sie halten ihn davon ab«, erwiderte die Heimleiterin gleichmütig. »Wie gesagt, ich habe nicht das Personal für solche Rettungsaktionen.«
»Sie kümmern sich doch bloß nicht um Fritz, weil er keine Verwandten mehr hat.«
»Das lass ich jetzt mal unbeantwortet.« Nach einer vorwurfsvollen Pause fuhr sie energisch fort: »Wenn aber Herrn Gievenbeck etwas zustößt, dann können Sie sicher sein, dass ich Sie moralisch dafür verantwortlich mache.«
Lukas bestritt eine solche Schuld sofort vehement und feuerte ein paar Gegenvorwürfe ab, bis die Heimleiterin das Telefonat beendete. Allerdings hatte sie ihn längst an seinem wunden Punkt voll erwischt. Und war es nicht tatsächlich so, dass er Fritz auf die Idee mit der Reise ans Meer gebracht hatte, nur um ihn dann maßlos zu enttäuschen, als er ihn auf unbestimmte Zeit vertrösten wollte – wohl wissend, dass Zeit etwas war, von dem Fritz nicht mehr viel besaß?
Lukas fühlte sich schrecklich, als er das Handy wieder einsteckte und darüber nachdachte, wie er Fritz aufhalten könnte. Zudem kreisten seine Gedanken immer wieder um Rosanna und das Foto – würde er jemals die Gelegenheit bekommen, es ihr zu zeigen? Oder sorgte Fritz’ Flucht gerade in diesem Augenblick für eine Verkettung unglücklicher Umstände, die auch Lukas’ Leben für immer verändern würden?
»Idiot«, schnaubte Lars kopfschüttelnd. »Ich rede mit dir!«
Aber Lukas hatte ihn nicht gehört und weder Zeit noch Interesse für eine Wiederholung. Er ließ Lars stehen und eilte los.
34
Die Durchsage wurde vom defekten Lautsprecher im Abteil bis zur Unverständlichkeit verhackstückt, irgendetwas über Waggons in verkehrter Reihenfolge. Rosanna hatte zum Glück schon kurz nach dem Einsteigen einen Platz gefun den. Inzwischen erfüllte Stimmengewirr die abgestandene Luft. Passagiere arbeiteten sich ächzend durch den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen und blockierten einander bei jeder Gelegenheit.
Gegenüber von Rosanna verteilte eine junge Mutter für ihren etwa sechsjährigen Sohn Buchstabenstein chen auf einer Scrabble-Unterlage. Der Junge wischte die Steine jedoch eher lustlos hin und her, anstatt sie zu sinnvollen Wörtern zusammenzusetzen.
»Jetzt lass das doch mal«, ermahnte sie ihn, wandte sich aber nach dem dritten Mal frustriert ab und schloss die Augen, während der Junge aus den Spielsteinen Torpfosten baute, durch die er mit am Dau men gespanntem Zeigefinger die anderen Steine schoss.
Einer davon traf Rosanna hart am Handgelenk, während sie mit verschränkten Armen den Jungen beobachtete. Ihr leiser Schmerzlaut ließ die Mutter kurz die Augen öffnen, sie aber ebenso schnell wieder schließen, als wollte sie nicht in die Situation hineingezogen werden.
Der kleine Junge musterte Rosanna abwartend, bis sie den Spielstein nahm, der sie getroffen hatte und in ihren Schoß gefallen war, und auf die Unterlage zurückwarf. Ein paar der Buchstabensteinchen ergaben dort bereits einen Teil ihres Namens: S-A-N-N . Rosanna vervollständigte ihn mit weiteren Steinen und zeigte auf sich. Der kleine Junge lächelte ein wenig, zog es aber vor, mit den Steinen weiter Tischfußball zu spielen.
Eine weitere Durchsage drang stockend durch das Gemurmel der Passagiere – der Versuch einer Entschuldigung für die sich verzögernde Abfahrt.
Aber Rosanna hatte es nicht eilig. Sie hatte nicht einmal ein klares Ziel. Sie war einfach zu einem Automaten marschiert und hatte eine Fahrkarte für den nächsten Zug gelöst. Wie lange sie an der Endstation bleiben würde, wusste sie nicht. Sie hatte beschlossen, sich treiben zu lassen, einfach in Bewegung zu bleiben und sich spontan zu entscheiden.
Ein
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