Betreutes Trinken
Haltung, im Gegensatz zu Kira.
Der droht eine Kernschmelze. Kühlwasser quillt aus ihrem Mundwinkel, aber wird es ausreichen, um sie vor einer Gefühlsexplosion zu bewahren? Meine Praktikantin wird gleich verglühen, und ich habe eine Sorge weniger. Herrlich.
»Mal eine kleine Frage an euch«, weckt uns der Magier aus seinem Bann, »wie schätzt ihr denn eure Jugendlichen ein? Also, was pfeifen die sich rein, regelmäßig, und was haben sie schon mal probiert? Die ganz harten Sachen oder eher die Partydrogen?«
Räuspern. Stille. Bartkratzen.
»Will jemand was zu trinken?«, fällt mir da ein, und ich ernte ausschließlich dankbare Blicke. Der Satz funktioniert eben nicht nur in meiner Kneipe, sondern überall dort, wo Menschen sich vor Antworten drücken wollen. Global denken, lokal handeln, Doris Kindermann macht’s vor, und öffnet fünf Flaschen unserer flüssigen Designerdroge, der rote Tod in der praktischen 0,25 Liter Portion. Ein Schluck genügt, schon kann Jochen wieder munter heucheln: »Also Fernando, wie du dir vielleicht denken kannst, ist unsere Klientel sehr bunt gemischt und doch speziell. Die sind zwar nicht bildungsfern, aber eben sehr sensitiv.«
Fernando zuckt mit den Achseln: »Schon klar. Das sind hier die Bonzenkinder.«
Kira und Jochen sind still.
Margret gackert kurz und schrill, ich hatte keine Ahnung, dass sie auch auf dem Zeug drauf ist. Aber schon reißt sich meine Chefin wieder zusammen, überspielt diesen Ausrutscher und streicht sich professionell die Locken aus der Stirn: »Ja, Fernando, wenn du es so bezeichnen möchtest, sicher. Aber die haben ja auch Probleme, der Leistungsdruck …«
Fernando nickt empathisch mit dem gesamten Oberkörper: »Natürlich, das stelle ich überhaupt nicht in Frage. Und wenn die Eltern Ärzte sind, kommt man ja auch leicht mal an Medikamente dran, ist eine ganz drastische Entwicklung, wenn man sich die Zahlen anguckt. Und natürlich gibt es auch in diesen Kreisen Eltern, die ihren Nachwuchs mit kleinen Helfern ruhigstellen, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen.«
Meine Kollegen und ich atmen erleichtert auf. Wenn der Theatermann die Wahrheit spricht, haben wir endlich echte Probleme. Mit ein bisschen Glück sind all unsere Jugendlichen tablettenabhängig. Na klar: Die sind gar nicht lethargisch und desinteressiert, sondern mit Ritalin vollgepumpt. Die, die wegen der angeblich so netten Atmosphäre kommen, werden zum Frühstück mit Anti-Depressiva gefüttert, und alle sind so gerne im Medienraum, damit sie diskret aus der Online-Apotheke Nachschub bestellen können. Wir sind kein Jugendtreff, sondern ein ganz schniekes Crack-House, gesponsert von der Pharmaindustrie.
Nein, das sind wir nicht. Wenn ich mir genau überlege, wie es hier läuft an einem normalen Tag, muss ich zugeben: Unsere Kids leiden unter einer ganz anderen kollektiven Störung. Sie sind nett. Angepasst. Pubertieren selbstverständlich, aber rücksichtsvoll. Sie kommen hierher, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, aber selbst dabei fragen sie selten nach unserer Hilfe. Sie gründen selbstständig kleine Lerngruppen, ach was, Seilschaften. Außer Ludi nutzt keiner den Medienraum, weil ihre Laptops einfach leistungsstärker sind als die alten Möhren. Sie konsumieren unsere subventionierten Erfrischungsgetränke und fair-gehandelten Schokoriegel, obwohl sie es sich leisten könnten, in ein ganz normales Café zu gehen. Aber ihre Eltern wollen sie betreut wissen. Sie von der bösen Welt da draußen abschirmen, wenigstens bis zum Abitur.
Der Ankerist nichts anderes als eine exklusive Flughafen-Wartehalle, eine Lounge für den Nachwuchs der Premiumkunden. Von hier aus starten sie dann in ihr Leben, das so völlig anders aussehen wird als meines oder Margrets, denn wir sind hier nur das Personal für die neue Elite; sie werden die Partei wählen, die Steuervorteile für Besserverdiener propagiert, wenn sie nicht Mitglieder oder führende Köpfe eben jener Partei werden.
Und in zehn, fünfzehn Jahren werden sie als BundesarbeitsministerInnen in Talkshows sitzen, gegenüber von aufgebrachten Hartz-IV-Empfängern, die ihnen vorwerfen werden, dass sie ja keine Ahnung vom wahren Leben hätten. Dann werden sie lächelnd die Köpfe schütteln und das Publikum im Saal wissen lassen:
»Nein, da liegen Sie ganz falsch. Ich musste auch lernen, mit meinem Geld zu wirtschaften, und in meiner Jugend sind meine Freunde und ich auch nicht ständig ausgegangen, wir haben so einen Jugendtreff
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