Betrogen
diese Art Spezialklinik betritt, sollte es noch am Eingang Stolz und Schamgefühl abgeben, denn auf lange Sicht stumpft man ab. Das liegt an den Techniken, die zur Befruchtung eingesetzt werden, an den Tests, denen man sich unterziehen muss, und an den Antworten, die man auf die intimsten Fragen nach dem persönlichen Geschlechtsleben und privaten Gewohnheiten geben muss.«
»Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich bin steril. Angeblich auf Grund von Medikamenten, die ich als Kind bekommen habe. Jedenfalls liegt bei mir eine irrelevant geringe Samendichte vor. Gegen Spendersamen hatte ich nichts einzuwenden. Eigentlich war dieser Vorschlag sogar von mir gekommen, als unsere anderen Möglichkeiten erschöpft waren.«
»Die körperlichen Eigenschaften und geistigen Interessen des Spenders wurden meinen so gut wie möglich angeglichen, obwohl das Candace und mir zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich egal war. Wir wollten nur eines: ein gesundes Baby. Und mit Ausnahme dieser einen, rein biologischen Formsache war Anthony mein Kind, mein Sohn.«
Chief und Melina überhörten geflissentlich die emotionalen
Brüche in seiner Stimme, was ihnen angesichts Candaces Tränen schwer fiel. »Es tut mir unendlich Leid, dass ich Ihnen das zumuten muss«, sagte Melina ernst. »Ich würde es nie tun, wenn es nicht so furchtbar wichtig wäre.«
»Ist schon gut«, meinte Candace. »Nach dem Verschwinden von Anthony haben auch wir Antworten gesucht. Ich verstehe, dass Sie unbedingt wissen müssen und wollen, was genau mit Ihrer Zwillingsschwester passiert ist.«
AnschlieÃend erzählte sie ihnen all das, was sie längst wussten. Das kerngesunde, wohl gebaute, dreieinhalb Kilo schwere Baby war an seinem zweiten Lebenstag aus dem Krankenhaus entführt worden.
»Wir lagen in einem privaten Entbindungszimmer«, erklärte sie. »Tony war weggegangen, um eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen. Anthony schlief neben mir in einem Bettchen. Da es fast schon wieder Zeit zum Stillen war, beschloss ich, zur Toilette zu gehen, bevor er aufwachte. Ich kann höchstens zwei oder drei Minuten drinnen gewesen sein. Als ich herauskam, war das Bettchen leer.«
Die letzten vier Worte waren kaum hörbar. Sie hielt sich nur noch mit letzter Kraft aufrecht. Chief bemerkte, dass auch Melina gröÃte Mühe hatte, ihre Emotionen zu unterdrücken. Innerlich wurde sie von stummen Weinkrämpfen geschüttelt. AuÃerdem hatte sie die Finger gegen die Lippen gepresst, als wolle sie verhindern, dass sie zitterten.
Tony nahm den Faden wieder auf. »Laut den Aufzeichnungen der Ãberwachungskameras war eine Putzfrau ins Zimmer gegangen und mit einem Bündel schmutziger Wäsche wieder herausgekommen. Vermutlich hat sie Anthony in diese Tücher gewickelt. Sie war so schlau, ihr Gesicht nicht in die Kameras zu halten, als ob sie gewusst hat, wo sie positioniert waren. Eines konnte man trotzdem noch erkennen: Sie gehörte nicht zum Klinikpersonal.
Das FBI lieà ihre Fotos durch alle Datenbanken laufen und erstellte Computeranalysen zur Bestimmung von Rasse, ungefährem
Alter usw. Leider ergebnislos. Sie glich keiner anderen Verdächtigen in einem Entführungsfall.«
»AuÃerdem hätte eine derart schlaue und dreiste Person ohne weiteres ihr Aussehen verändern können«, warf Candace dazwischen.
»Kein Auto, das an jenem Tag auf den Klinikparkplätzen stand, ergab irgendeine Spur. Die Ermittler von Orts- und Bundespolizei haben jede einzelne verfolgt. Daraus schloss man, irgendjemand habe nur wenige Schritte von der Klinik entfernt auf sie gewartet und sie und Anthony mitgenommen. Da alles ganz normal gewirkt hätte, hätte auch niemand darauf geachtet. Jedenfalls gab es keine Augenzeugen, die im Klinikbereich irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt haben.«
»Ist man denn nie mit einer Lösegeldforderung an Sie herangetreten?« , wollte Melina wissen.
»Wer ihn mitgenommen hat, wollte das Baby, kein Geld.«
Chief beugte sich vor und erkundigte sich freundlich: »Wie kommen Sie darauf, Candace?«
»Weil ich weiÃ, dass er lebt. Ich weià es.«
»Man hat intensiv nach seiner- seiner Leiche gesucht«, sagte Tony mühsam. »Sie dachten, vielleicht hätte jemand ein Hühnchen mit mir zu rupfen, oder eine radikale Gruppe, die gegen Künstliche Befruchtung ist, stünde dahinter. Aber es gab keine Spur, nie.
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