Betrogen
Keine Klinikdecke, keine Windel, kein Identifikationsbändchen, nichts. Candace und ich werden das Gefühl nicht los, dass man ihn nur deshalb entführt hat, um ein Baby zu bekommen. Irgendjemand hat unser Baby.«
Wieder brach seine Stimme, aber diesmal tröstete ihn Candace. Sie löste ihre Hand aus seiner, legte ihm einen schmalen Arm um die Schulter und drückte ihn an sich, wobei sie ihn zärtlich beruhigte.
Chief sah, dass Melina ihren Kampf gegen die Tränen aufgegeben hatte, die ihr inzwischen ungehindert über die Wangen liefen. Gerade jetzt wirkte sie besonders verletzlich, wie sie so stumm und herzzerreiÃend vor sich hinweinte, nicht
nur wegen der Andersons, sondern vielleicht auch wegen ihrer selbst.
In der kurzen Zeit, die er sie kannte, hatte sie sich ungewöhnlich tapfer, entschlossen und selbstbeherrscht gezeigt. Eine Frau mit viel Courage. Eine derart starke Frau zu bewundern, fiel leicht. Aber noch leichter war die Bewunderung für eine Frau, die aus reinem Mitgefühl weinen konnte, ohne einen Hauch von Selbstdarstellung.
Eine Weile sagte keiner ein Wort. Der Hund stand auf, wackelte zu dem Ehepaar hinüber und legte Tony jaulend den groÃen Schädel auf den Schenkel, als sei er an diese Gefühlsausbrüche gewöhnt. Ganz automatisch streichelte ihm Tony den Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren. AnschlieÃend begab er sich wieder zum Kamin, legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und beobachtete trübselig seine Besitzer.
Traurig wanderten Chiefs Blicke von dem loyalen Tier zum flackernden Bildschirm. Ein Hausbrand mit drei Todesopfern war der Aufmacher der stummen Nachrichtensendung.
SchlieÃlich wischte sich Melina die Tränen ab und brach das betretene Schweigen: »Der Mann, der meine Schwester getötet hat, hieà Dale Gordon, ein Angestellter der Waters Klinik.«
»Das habe ich gelesen«, sagte Candace, »obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass so jemand dort gearbeitet hat.«
»Ein groÃer, dürrer Kerl«, warf Chief ein, der noch allzu gut wusste, wie Gordon ausgesehen hatte, als er mit Gillian das Taco-Lokal betreten hatte. »Schüttere blonde Haare, dicke Brillengläser. Etwas schlaksig.«
»Oh.«
Mit diesem Ausruf zog Candace alle Blicke auf sich. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft wirkte ihr Gesicht lebhafter. »Der! An den erinnere ich mich. Bei jedem meiner Kliniktermine hat er besonderen Wert auf eine Unterhaltung mit mir gelegt.« Dann meinte sie zu ihrem Mann gewandt: »WeiÃt du noch, Schatz? Er hat diesen Teddybären in die Klinik gebracht.«
Plötzlich fiel es Tony wieder ein. »Dieser Kerl?«
Rasch wechselte Chief mit Melina einen vielsagenden Blick. »Gordon ist mit einem Geschenk für das Baby in die Klinik gekommen? Er war bei Ihnen im Zimmer?«
»Ja. Er war ganz reizend, hat mich mit Anthony auf dem Arm fotografiert. Schon vom ersten Moment an schien er sich ehrlich für mich zu â« Candace Anderson wurde kreidebleich. Nur mit letzter Kraft beendete sie ihren Satz. »Schien er sich ehrlich für mich zu interessieren.«
»Bei Gillian war es genauso«, sagte Chief, als er merkte, dass Melina zu keiner ÃuÃerung fähig war. Sie hatte die Arme um sich gelegt, als sei ihr eiskalt. Er erzählte den Andersons, wie er und Gillian Gordon begegnet waren, und wie seltsam dieser sich verhalten hatte. »Offensichtlich hat ihn unser gemeinsames Erscheinen aus der Fassung gebracht, was letztlich dazu führte, dass er sie umbrachte. Er fühlte sich von ihr anscheinend betrogen. Irgendwie hat er sich einen Anspruch auf sie zurechtgelegt.«
»Denselben Eindruck hatte ich auch«, sagte Candace. »Allerdings schien er hocherfreut zu sein, als die Künstliche Befruchtung positiv verlief und ich schwanger wurde.«
»Beim ersten Anblick von Anthony reagierte er tief bewegt«, meinte Tony, »als müsste er jeden Moment weinen. Das war uns sehr peinlich.«
»Mir hat er Leid getan«, fuhr Candace fort. »Ich hielt ihn einfach für einen einsamen Mann, der aus persönlichen Gründen an den Erfolgen der Klinik Anteil nahm, weil er keine eigene Familie hatte.«
Tony kam auf den springenden Punkt: »Glauben Sie, dass er irgendetwas mit Anthonys Entführung zu tun hatte?«
»Schon möglich, oder?«, erwiderte Melina.
»Aber er hat doch Selbstmord begangen, stimmtâs?« In wachsender
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