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Betrogen

Betrogen

Titel: Betrogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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aufplatzten, schlich die Treppenstufen hinauf und öffnete die Tür, aber nur einen Spalt. Kühlere Luft strömte über sein rot erhitztes Gesicht.
    Drinnen saß eine hübsche Dame an der Orgel, ganz in ihr Spiel versunken. Alvin sah, wie ein Mann durch eine Seitentür den Altarraum betrat. Er ging durch den Mittelgang und verteilte Bücher auf den Bänken. Später erfuhr Alvin, dass diese Bücher Gesangbücher hießen und darin die Noten und Liedertexte gedruckt waren.
    Â»Sie spielen heute Nachmittag aber sehr hübsch, Miss Jones«, bemerkte der Mann.
    Â»Danke schön, Herr Pastor.«
    Der Pastor bemerkte, wie Alvin durch die Tür lugte, jagte ihn aber nicht fort, sondern sprach ihn freundlich an, winkte
ihn herein, nannte ihn »Söhnchen«, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und lud ihn ein, am Sonntag zum Gottesdienst zu kommen. »Ich werde dich erwarten.«
    Seit jenem ersten Besuch war Alvin regelmäßig dabei. Er liebte es, der Dame an der Orgel zuzuschauen, während sie für eine Sängergruppe spielte, die man Chor nannte. Ihre Hände und Füße bewegten sich gleichzeitig. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie den Überblick behielt.
    Die Chorleiterin war die Frau des Pastors, eine untersetzte Dame mit Sommersprossen, die manchmal solo sang. Sie sang so laut und hoch, dass ihr Doppelkinn zu wackeln begann, aber wenn sie mit dem Singen aufhörte, riefen alle Männer: »Amen!«
    Doch meistens sang die ganze Gemeinde. Obwohl Alvin die Lieder nicht kannte, stand er wie alle anderen auf, bewegte die Lippen und tat so, als sänge er mit. Manche brauchten nicht einmal das Gesangbuch, sie kannten den ganzen Text auswendig. Wenn der Opferteller herumging, legten sie Geld darauf. Da Geld bei Alvin daheim am schwierigsten zu bekommen war, war das vielleicht die größte Überraschung in der Kirche.
    Seine Familie nannte ihn spöttisch ihren kleinen »Bibelfresser«. Trotzdem versäumte Alvin keinen einzigen Sonntagsgottesdienst, weder in jenem Sommer noch danach, als die Fächer des Bestattungsunternehmens mit dem Gesicht von Jesus – nicht der, auf den man fluchte, sondern ein anderer, der mit Gott und dem Heiligen Geist im Himmel lebte – gegen Heizgeräte ausgetauscht wurden, um der Kälte im Altarraum Herr zu werden.
    Aber die wahre Hitzequelle waren die Predigten des Pastors. Sie erwärmten alle Zuhörer, egal zu welcher Jahreszeit, ob heiß oder kalt. Allein seine Stimme verordnete Aufmerksamkeit. Wenn er sprach, schienen die Leute in den Bänken nicht zu merken, wie hart sie saßen oder wie laut ihnen der Magen knurrte, wenn die Mittagszeit immer näher rückte. Sie lauschten jedem Wort seiner Predigt und liebten ihn, auch wenn er
sie manchmal wegen ihres sündigen Benehmens und ihrer verderbten Gelüste tadelte, und kamen jeden Sonntag wieder, um noch mehr zu hören.
    Eines schönen Sonntags, kurz nachdem Alvin durch die Taufe ein Mitglied der Gläubigen geworden war, schleuderte ihnen der Prediger jenen donnernden Sermon über das Begehren entgegen. Alvin erfuhr, dass mit Begehren der Wunsch nach Dingen gemeint war, die man nicht haben konnte. Er dachte dabei eher an einen Boxhandschuh oder an ein Fahrrad oder an das Jagdgewehr, das vor kurzem mysteriöserweise bei seinem älteren Bruder aufgetaucht war.
    Aber noch beim Zuhören begriff er, dass sich das Begehren auf eine Menge Dinge erstreckte, sogar auf Frauen. Der Prediger ereiferte sich mächtig über einen Kerl namens König David und eine Dame, der er beim Baden zugeschaut hatte. Obwohl Alvin nicht jedes Detail verstand, kapierte er das Wesentliche: Du sollst deinen Pimmel nicht in ’ne Muschi stecken, die dir nicht gehört.
    Einige Dinge konnten seine Brüder viel einfacher ausdrücken als der Prediger.
    In der darauf folgenden Woche wurde Alvin Medford Conway am letzten Mai zwölf. Am ersten Juni war der letzte Schultag. Zur Feier des Beginns der Sommerferien ging er fischen. Als er zu seinem Lieblingsplatz am Bach kam, sah er zu seiner Enttäuschung ganz in der Nähe ein Auto im Schatten einer großen Ulme parken. Irgendeiner wilderte an seinem Lieblingsangelplatz.
    Aber dann erkannte er in dem Wagen den des Pastors wieder, mit dem er Kranke, Bedürftige und Abtrünnige besuchte. Wenn er schon seinen Angelplatz gezwungenermaßen mit irgendjemandem teilen musste, dann noch am

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