Betrogen
die Wangen und tropften in das brusthohe Badewasser. Ihr ganzer Körper bebte so vor Schluchzen, dass sich an der Wasseroberfläche heftige Wellen bildeten.
Das Verlustgefühl hatte alles gepackt: Verstand, Körper, Seele. Sie spürte es wie ein Messer in jeder Faser ihres Seins. Und doch kam ihr manchmal der Tod ihrer Schwester unwirklich vor, wie etwas, das sich trotz des Gottesdienstes an diesem Nachmittag unmöglich akzeptieren lieÃ. Aber es war Wirklichkeit. Sie hatte den Leichnam gesehen.
Bei einem Blick in die Zukunft sah sie nur Wochen und Monate der Trauer vor sich, deren Durchleben-Müssen sie zutiefst scheute. Schon der bloÃe Gedanke daran war entmutigend und niederschmetternd. Der Verlust war Wirklichkeit, und deshalb hatte sie nur noch einen Wunsch: Ein bis zwei Jahre lang nur schlafen zu können und erst aufzuwachen, wenn die schlimmste Qual hinter ihr lag.
Allmählich versiegten ihre Tränen, und die Wellen im Badewasser wurden kleiner. Erschöpft legte sie den Kopf auf den Badewannenrand und schloss die Augen.
Das Telefon weckte sie aus einem leichten Schlummer. Zuerst wollte sie es klingeln lassen, doch letztlich war es besser, den Anruf jetzt entgegenzunehmen, als später jemanden zurückrufen
zu müssen. Sie griff nach dem schnurlosen Hörer, den sie mit ins Bad genommen hatte. »Hallo?«
Gleichzeitig antwortete Jem am anderen Anschluss. »Hallo?«
»Ich würde gerne Ms. Melina Lloyd sprechen.«
»Am Apparat. Jem, ich habâs schon.« Sie wartete, bis er aufgelegt hatte, und antwortete dann: »Ich bin Melina Lloyd.«
»Ms. Lloyd, entschuldigen Sie bitte die Störung. Soweit ich weiÃ, hat heute der Trauergottesdienst für Ihre Schwester Gillian stattgefunden, nicht wahr?«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Lucy Myrick, ich arbeite für das FBI.«
Alles in ihr erstarrte. Die letzten Tränen trockneten sofort. Sie hielt ganz still, so still, dass das Badewasser keinerlei Wellen mehr warf. Sie konnte hören, wie ringsherum im duftenden Schaum winzige Luftbläschen platzten. Am liebsten hätte sie den Schaumberg wie einen Umhang dichter herangezogen. Plötzlich fühlte sich das Wasser kalt an, obwohl sie nur Augenblicke vorher noch in seiner entspannenden Hitze versunken war.
Aber nicht der Schock lieà sie erstarren. Seltsamerweise hatte sie diesen Anruf oder etwas Ãhnliches erwartet. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sich dieser Mord nicht so einfach erklären lieÃ. Auch als Lawson die Fallakte schloss, ahnte sie im Innersten, dass es hier um mehr ging, dass die Ermittlungen des Kommissars nicht vollständig waren, dass er nur das Augenscheinliche entdeckt hatte, dass die Ermordung ihrer Schwester noch immer ein Geheimnis barg.
Sie schluckte trocken. »Was kann ich für Sie tun. Ms. â Entschuldigen Sie.«
»Myrick. Ich rufe im Auftrag von Sonderagent Hank Tobias an. Er würde Sie gerne morgen sprechen, so früh wie möglich.«
»Weshalb?«
»Um wieviel Uhr wäre Ihnen denn recht?«
»Das muss mit der Ermordung meiner Schwester zusammenhängen.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil meine Steuern bezahlt sind und ich keine Krawalle angestiftet habe. Also«, fauchte sie, »spielen Sie mit mir, bitte, nicht Versteck, Ms. Myrick. Die Ermordung meiner Schwester ist das einzige Verbrechen, mit dem ich in dieser Woche in Berührung gekommen bin. Warum sollte mich das FBI denn sonst anrufen?«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie verärgert habe. Ehrlich. Ja, Mr. Tobias möchte Sie wegen der Ermordung Ihrer Schwester sehen.«
»Detective Lawson von der Polizei in Dallas wurde diesem Fall als Ermittler zugeteilt. Er sollte mehr Informationen haben als ich, besonders bezüglich der technischen Aspekte.«
»Eigentlich möchte sich Mr. Tobias mehr über persönliche Dinge mit Ihnen unterhalten.«
»Gibt es etwas Persönlicheres, als mit einem Küchenmesser erstochen zu werden?«
Ohne auf ihren Sarkasmus weiter einzugehen, fuhr Myrick ruhig fort: »Ihre Schwester war Patientin der Waters Klinik. Ist das richtig?«
»Damit beschäftigt sich das FBI? Seit wann denn das?«
»Welche Uhrzeit würde Ihnen morgen passen, Ms. Lloyd?«
Sie wollte erneut losfauchen, bremste sich dann aber doch. Lucy Myrick war nur ein Sprachrohr. Auch wenn sie über die Einzelheiten des Gesprächs, um das Tobias gebeten
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