Betrogen
anstatt auf den Aufzug zu warten. Sie hätte auch bei Tobias im Büro anrufen und ihm sagen können, er solle nicht Schluss machen, ehe sie bei ihm gewesen sei, aber irgendwie gefiel ihr die Vorstellung besser, ein wenig atemlos mit vor Aufregung geröteten Wangen und bebender Brust hereinzuplatzen. Auch wenn es da nicht allzu viel zu beben gab.
Und genau das tat sie jetzt, als er gerade seinen Regenmantel vom Kleiderständer zog. »Bin ich froh, dass ich Sie noch erwischt habe«, keuchte sie. Er drehte sich zu ihr um, und sie spürte Schmetterlinge im Bauch.
»Was ist denn los, Ms. Myrick?«
Ms. Myrick, und nicht nur Myrick, wie die übrigen Kollegen sie nannten. Und nie Lucy. Sie hatte keine Ahnung, ob diese Formalität ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Vielleicht kannte er ihren Vornamen gar nicht. Dieser Gedanke gefiel ihr am besten.
Hank Tobias war nicht nur der bestaussehende Schwarze, den sie je gesehen hatte, sondern der bestaussehende Mann überhaupt. Punktum. Am College hatte er Football gespielt, als Verteidiger. Laut den Stammtisch-Quarterbacks im Büro in Profiqualität. Das mochte sie glauben, bei dem Körperbau.
Stattdessen hatte er sich für eine Karriere im Polizeidienst entschieden. Er war klug, kleidete sich traumhaft und war überdies noch Single. Sein Liebesleben gab zu ständigen Spekulationen Anlass, obwohl man sich allgemein einig war, dass Hank Tobias keine Zeit für eine tiefer gehende Beziehung hatte, da er sich voll und ganz seiner Arbeit widmete. Mit dieser Erklärung konnte Lucy leben.
»Soll ich meinen Regenmantel anziehen oder nicht?« Sie hatte Ausdrucke mitgebracht, bei deren Anblick er sofort wissen wollte, wie wichtig sie seien und wie viel länger er ungefähr noch bleiben müsste.
»Lassen Sie ihn aus.«
»Genau das habe ich befürchtet.« Er hängte den Regenmantel wieder auf und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Was haben Sie denn da?«
»Kliniken für Künstliche Befruchtung.« Sie trat einen Schritt weiter in sein Büro. »Sie haben mir doch gesagt, ich solle darauf achten, ob es irgendwelche Bezüge zwischen den Inseminationen und Entführungen gibt.«
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Nur bei Entführungen? Was ist mit anderen Schwerverbrechen?«
»Zum Beispiel?«
»Mord.«
Er griff nach dem Ausdruck.
»Dallas«, erklärte sie ihm, während er sich daran machte, die Blätter zu überfliegen. »Gillian Lloyd. Eine WeiÃe, fünfunddreiÃig Jahre. Wurde vor drei Tagen erstochen in ihrem Bett aufgefunden. Laut der Polizei in Dallas handelt es sich bei dem Mörder um einen gewissen Dale Gordon, Angestellter einer â«
»Lassen Sie mich raten.«
»Bingo. Bei der Waters Klinik, um genau zu sein, wo Gillian Lloyd Patientin war.«
Tobias schaute von seiner Lektüre auf. »Patientin weshalb?«
»Diesbezüglich keine Information, aber man darf mit Sicherheit vermuten â«
»Vermutungen gibt es nicht.«
»Ja, Sir.« Sie lief so rot an, dass ihre Sommersprossen darunter verschwanden. »Ich werde mich nach dem Anlass für Gillian Lloyds Besuche in der Klinik erkundigen.«
»Verheiratet?«
»Single.« Er stand auf und ging zu einem Aktenschrank. Während er nach einer anderen Fallakte suchte, fasste Lucy mit einem sehnsüchtigen Blick auf seine Kehrseite die restlichen Informationen zusammen.
Als er den gesuchten Ordner gefunden hatte, hielt er ihn hoch. »Die Entführung des Anderson-Babys. Ebenfalls in Dallas.« Rasch blätterte er das Material durch. »Was sagt man dazu? Wieder die Waters Klinik. Ein Paar; sie ist nach künstlicher Befruchtung schwanger geworden. Geburt eines normalen Jungen, der zwei Tage später aus dem Krankenhaus entführt wird.«
»Wie letztes Jahr bei dem Paar in Kansas City. Der Fall in Dallas ist jüngeren Datums, stimmtâs?«
»Dieser Februar.«
»Aber meines Wissens«, meinte Lucy, »gehörte die Klinik in Kansas City nicht zur Waters Kette.«
»Nein, aber das Vorgehen dort war ähnlich. Man bot unfruchtbaren Paaren die ganze Bandbreite der Möglichkeiten.«
»Beziehungsweise Singles, die ein Kind wollten.« Daran hatte
sie selbst schon gedacht. Bisher war der Richtige noch nicht aufgetaucht, eigentlich noch nicht einmal ein annähernd Richtiger. Sollte sie unbedingt ein Kind
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