Bettler 01 - Bettler in Spanien
Ihnen eine Steigerung Ihrer körperlichen Qualitäten oder eine Verbesserung Ihrer Sinnesorgane, was eben nötig ist dazu.«
»Warum sollte ich denn das wollen?«
»Ja, warum eigentlich?« sagte Leisha. »Aber manche Leute wollen es.«
»Keiner von denen, die ich kenne«, stellte der Junge entschieden fest. »Hört sich an, als wäre da der Wurm drin. Noch ‘ne Frage: Warum machen Sie eigentlich das Ganze? Also dieses Stiftungsdings leiten und so?«
»Weil«, antwortete Leisha klar und langsam, »es die Starken den Bettlern schuldig sind, jeden von ihnen zu fragen, warum er ein Bettler ist, und ihre weiteren Handlungen darauf abzustimmen. Weil Gemeinschaft Voraussetzung ist und nicht Resultat, und nur wenn man der Unproduktivität die gleiche individuelle Existenz zugesteht wie der elitären Leistung und entsprechend handelt, erfüllt man seine Verpflichtung den spanischen Bettlern gegenüber.«
Sie sah, daß der Junge kein einziges Wort davon verstanden hatte. Er stellte auch keine Fragen. Er stand auf, schnappte sein Aufnahmegerät mit sichtlicher Erleichterung – das Tagwerk war getan – und streckte Leisha die Hand hin. »Also, ich denke, das genügt. Der Lehrer sagte, vier Fragen würden reichen. Vielen Dank, Miss Camden.«
Sie nahm seine Hand. Was für ein höflicher Junge, so ganz ohne Haß oder Neid, so zufrieden. So dumm. »Ich danke Ihnen, Mister Cavanaugh. Daß Sie auf meine Fragen eingegangen sind. Würden Sie mir noch eine einzige beantworten?«
»Sicher.«
»Wenn Ihr Lehrer dieses Interview tatsächlich ins Schulnetz einspeist, wird es sich irgend jemand anhören?« Er wandte die Augen ab; er wollte sie mit seiner Antwort sichtlich nicht in Verlegenheit bringen. Was für ein höflicher Junge. »Sehen Sie sich überhaupt je Nachrichtensendungen an, Mister Cavanaugh?«
Jetzt sah er ihr wieder in die Augen; sein junges Gesicht zeigte sich schockiert. »Natürlich! Meine ganze Familie tut das! Wie sollten Mama und Papa denn sonst wissen, welche Macher uns das meiste für unsere Stimmen geben?«
»Aha«, sagte Leisha und nickte. »Die Verfassung der Vereinigten Staaten funktioniert also wie geschmiert.«
»Und nächstes Jahr haben wir die Dreihundertjahrfeier«, sagte der Junge stolz; alle Nutzer waren Patrioten. »Vielen Dank noch mal.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Leisha wieder.
Stella stand mit strenger Miene in der Tür und brachte den Jungen hinaus. »Dein ComLinkgespräch ist in zwei Minuten fällig, Leisha, und jetzt ist ein…«
»Stella, wie viele Anträge hat die Stiftung in diesem Quartal bearbeitet?«
»Einhundertsechzehn«, sagte Stella penibel. Sie war für alle Unterlagen der Stiftung zuständig, die finanziellen eingeschlossen.
»Wieviel Prozent weniger als letztes Quartal?«
»Sechs.«
»Und innerhalb des letzten Jahres?«
»Acht Prozent. Aber das weißt du doch.« Leisha wußte es. Stella wäre mehr als ausgelastet, würde die Stiftung in gleichem Ausmaß in Anspruch genommen werden wie in den ersten Jahren. Sie würde nicht den Versuch machen, sich ihr erstklassiges Hirn von Sekretärinnen- und Mutterpflichten ausfüllen zu lassen – und als Folge ihrer Umgebung unausgesetzt auf die Zehen treten. Stella mußte erraten haben, was Leisha dachte. Sie sagte: »Du könntest wieder als Anwältin arbeiten. Oder noch ein Buch schreiben. Oder eine neue Firma auf die Beine stellen, wenn du den Machern bei den Dingen Konkurrenz machen willst, die du noch besser kannst als sie.«
»Sanctuary macht ihnen Konkurrenz«, korrigierte Leisha nachsichtig. »Und die neue Wirtschaftsordnung ist ohnedies nicht auf Wettbewerb aufgebaut. Sie basiert auf Lebensqualität. Ein junger Mann hat mir das gerade vor Augen geführt. Hör auf mich zu piesacken, Stella, ich habe heute Geburtstag. Was ist denn das für ein Lärm da draußen?«
»Das will ich dir doch die ganze Zeit sagen! Draußen am Gartentor steht ein Kind und brüllt wie am Spieß, weil es dich sprechen will und niemand sonst.«
»Ein Schlaflosenkind?« fragte Leisha. Ihr Herz schlug schneller. Manchmal passierte es immer noch: eine illegale Genmodifizierung, ein völlig verwirrtes Kind, das über die Jahre langsam draufkam, daß es anders war, daß es sich mit den Rollerrennen und Holovids und Brainie-Partys nicht so zufriedengab wie seine Freunde. Dann hörte es durch Zufall und üblicherweise von einem wohlmeinenden Macher von der Susan-Melling-Stiftung, und es folgte die furchterregende, entschlossene Suche nach seiner eigenen
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