Bettler 01 - Bettler in Spanien
Gattung, noch bevor es wußte, was es hieß, einer eigenen Gattung anzugehören. Diese schlaflosen Kinder oder Teenager oder gelegentlich sogar Erwachsene aufzunehmen und sie dabei zu unterstützen, das zu werden, was sie bereits waren, hatte während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte in der Wüsteneinsamkeit Leishas größte Freude dargestellt.
Doch Stella sagte: »Nein, kein Schlafloser. Ein etwa zehnjähriger Junge, ein dreckiger kleiner Kerl, der Zeter und Mordio schreit, weil er dich sprechen muß, und nur dich. Ich habe Eric rausgeschickt, um ihm zu sagen, daß du morgen deine Sprechstunde hast, aber er drosch Eric eine aufs Auge und sagte, solange könne er nicht warten.«
»Hat Eric ihn flachgelegt?« fragte Leisha. Stellas zwölfjähriger Sohn verfügte über Kraftmodifikationen. Und über Karatetraining. Und über eine Gemütsart, die kein Schlafloser haben sollte.
»Nein«, sagte Stella stolz. »Eric wird langsam erwachsen. Er lernt, nicht hinzuschlagen, wenn keine klare Notwendigkeit zur Selbstverteidigung vorhanden ist.«
Das bezweifelte Leisha. Eric Bevington-Watrous machte ihr Sorgen. Aber sie behielt den Gedanken für sich und sagte nur: »Laß den Jungen herein. Ich rede gleich mit ihm.«
»Leisha! Du hast in diesem Moment Tokio am ComLink!«
»Sag ihnen, ich rufe zurück. Hab Geduld mit mir, Stella – heute ist mein Geburtstag. Ich bin alt.«
»Alice ist alt«, entgegnete Stella; augenblicklich schlug die Stimmung um, und Stella sagte: »Entschuldige, es tut mir leid.«
»Laß den Kleinen rein. Zumindest hört dann dieses Gebrüll auf. Wie, sagtest du, heißt er?«
»Drew Arien«, sagte Stella.
Im Orbit über dem Pazifik brach der Hohe Rat von Sanctuary in spontanen Beifall aus.
Vierzehn Männer und Frauen saßen im kuppelförmigen Tagungshaus um den Tisch aus geschliffenem Metall, der die Form einer stilisierten Doppelhelix hatte. Eine Plastiglasscheibe lief in einem Meter Höhe um die ganze Kuppel herum und wurde nur an einigen Stellen von dünnen Stützen aus Metall unterbrochen. Der halbkugelförmige Bau stand am äußersten Ende der zylindrischen Orbitalstation und verschaffte damit dem Konferenzraum, der genau die Hälfte des Tagungshauses einnahm, eine reizvoll abwechslungsreiche Aussicht. Richtung ›Norden‹ lagen Äcker, gesprenkelt mit einigen Kuppeln, die sich sanft nach oben wölbten, bis sie sich im Dunst des Himmels verloren. Richtung ›Süden‹ lag nur der Weltraum, hart und klar hinter der relativ dünnen Luftschicht, die sich zwischen dem Tagungshaus und dem Plastiglasende des Orbitalzylinders befand. Im Norden, wo die Sonnenstrahlen ungehindert durch die langen, klaren Scheiben ins Innere der Orbitalstation einfielen, war warmer, heller ›Tag‹; im Süden endlose Nacht, die entweder von Sternen oder einer bedrückend riesigen Erde erfüllt war. Die ungleichmäßige Krümmung des Konferenztisches und die Anordnung der am Boden festgeschraubten Stühle brachte es mit sich, daß sechs Komiteemitglieder den Anblick der Sterne genossen und acht jenen der Sonne.
Jennifer Sharifi, ständige Ratsvorsitzende, blickte stets nach Norden, Richtung Sonne.
Ihre schwarzen Augen funkelten vor Freude, als sie sagte: »Das Scanning des Gehirns, die Analyse der Rückenmarksflüssigkeit, die Resultate der Spinalkartographie und selbstverständlich der DNA-Analyse lassen auf einen durchschlagenden Erfolg schließen. Unsere wärmsten Glückwünsche an die Doktoren Toliveri und Clement. Und natürlich an Ricky und Hermione.« Sie schenkte Sohn und Schwiegertochter ein inniges Lächeln. Ricky lächelte zurück; Hermione zog den Kopf ein, und ein winziger Krampf durchzuckte ihr makellos schönes Gesicht. Etwa die Hälfte der Familien in Sanctuary ließen keine gentechnischen Veränderungen mehr vornehmen; sie gaben sich mit dem intellektuellen und psychischen Gewinn zufrieden, der allein durch die Schlaflosigkeit entstand, und hatten dazu den Wunsch, Familienähnlichkeiten zu erhalten. Hermione, veilchenäugig und schlankgliedrig, gehörte der anderen Hälfte an.
Voll Ungeduld sagte Ratsmitglied Victor Lin: »Können wir das Baby nicht sehen? Die Umgebung hier wird doch steril genug sein, oder?« Ein paar Anwesende lachten.
»O ja, bitte!« sagte Ratsmitglied Lucy Arnes und errötete. Sie war erst einundzwanzig, auf der Orbitalstation geboren und immer noch ein bißchen überwältigt davon, daß ihr Name in der Bürgerlotterie für eine Amtsperiode beim Hohen Rat gezogen worden
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