Bettler 01 - Bettler in Spanien
eine Bürde für die Gesellschaft und eine Schande für sich selbst, denn es ist eine Schande, nicht zu arbeiten, wenn andere es tun. Selbst wenn ein Schläfer sehr fleißig wäre in seiner aktiven Phase, ausreichend Geld für seine alten Tage ansammelt und sich Roboter anschafft, die für ihn sorgen, würde er am Ende isoliert sein, unfähig, an Sanctuarys Alltag teilzunehmen, und degenerieren. Dahinsiechen. Würden Eltern, die ihr Kind lieben, es einem solchen unausweichlichen Schicksal aussetzen wollen? Könnte eine Gemeinschaft viele solche Menschen erhalten, ohne eine geistige und seelische Bürde auf sich zu nehmen? Einige gewiß – aber wie steht es mit den Prinzipien, um die es dabei auch geht?
Ein Schläfer, der unter uns aufwächst, wäre nicht nur ein Außenseiter – bewußtlos und hirntot acht Stunden jeden Tages, während die Gemeinschaft ohne ihn weitermacht –, er hätte auch mit der enorm belastenden Gewißheit zu leben, daß er eines Tages einen Schlaganfall oder eine Herzattacke erleiden, daß er sich Krebs oder eine der Myriaden anderen Krankheiten zuziehen würde, für die Bettler so anfällig sind. Er würde wissen, daß er eines Tages eine Bürde für die anderen darstellen muß. Wie sollte ein Mensch mit Prinzipien damit leben können? Weißt du, was er tun müßte?«
Miri sah es voraus, aber sie wollte es nicht sagen.
»Er würde Selbstmord begehen müssen. Einem Kind, das man liebt, würde man damit etwas Furchtbares aufzwingen.«
Miri kroch unter dem Tisch hervor. »A-A-Aber, G-G-Großm-m-mama, eines T-T-Tages m-m-müssen w-w-wir alle st-t-terben!«
»Selbstverständlich«, sagte Jennifer gelassen. »Doch wenn ich sterbe, wird es nach einem langen und produktiven Leben als vollwertiges Mitglied meiner Gemeinschaft sein – von Sanctuary, unserem Herzblut. Und ich würde das gleiche für meine Kinder und Kindeskinder wollen. Kein Jota weniger als das. Und genauso denkt Joans Mutter.«
Miri überlegte. Komplizierte Gedankennetze knüpften sich in ihrem Kopf. Und schließlich nickte sie gequält.
Jennifer sagte, als hätte sie nicht schon gewonnen: »Ich glaube, Miri, du bist jetzt alt genug, um die Sendungen von der Erde zu sehen. Wir legten die Altersgrenze von vierzehn Jahren fest, weil wir fanden, es wäre besser für dich und die anderen Kinder, wenn man Grundsätzen Zeit gibt, sich in euch zu festigen, ehe ihr seht, wie sie auf der Erde über Bord geworfen werden. Vielleicht war das ein Fehler, besonders bei euch SuperS. Wir tappen immer noch ein wenig im dunkeln, was euch betrifft, mein Herz. Aber möglicherweise ist es das beste, wenn ihr mit eigenen Augen das vergeudete, sinnlose parasitäre Leben seht, das die Bettler – sie nennen sich jetzt ›Nutzer‹ – tatsächlich am liebsten führen.«
Miri spürte ein merkwürdiges Widerstreben, die irdischen Sendungen zu sehen – ein Widerstreben, das sie nie zuvor bemerkt hatte. Doch wiederum nickte sie. Großmutter duftete nach parfümierter Seife, leicht und sauber; ihr langes Haar, zu einem Knoten gewunden, glänzte wie schwarzes Glas. Scheu legte Miri eine Hand auf Jennifers Knie.
»Und noch etwas, mein Herz«, sagte Jennifer. »Zwölf ist zu alt, um zu weinen, Miri, ganz besonders wegen einer unumgänglichen Notwendigkeit. Schon unser Fortbestehen allein verlangt uns zuviel ab, als daß uns dafür Tränen blieben. Daran mußt du immer denken.«
»J-J-Ja, G-Großm-m-mama.«
Am nächsten Tag sah sie Joan vom Kuppelbau ihrer Eltern zum Park gehen. Miri rief ihren Namen, aber Joan ging weiter und drehte sich nicht um. Nach einer Sekunde hob Miri das Kinn und stapfte in die andere Richtung.
20
Die fünf jungen Männer schlichen an einer einsamen, morschen Bank vorbei auf den Kettenzaun zu. Sie hielten sich dabei im schützenden Schatten ungestutzter Sträucher und Bäume. Die Bank stand dort, wo sich einst ein Park befunden haben mochte. Der Mond leuchtete hoch am östlichen Himmel und tauchte den Zaun in Silber. Die Ketten des Zaunes lagen weit auseinander und hingen in ungleichmäßigen, substanzlos wirkenden Bögen herab. Der Zaun stellte offensichtlich nur eine Markierung dar; die echte Sicherung kam zweifellos von einem Y-Feld. Falls das stimmte, so war jedenfalls der schwache Schimmer des Feldes in der Dunkelheit nicht zu sehen, und es gab keine Möglichkeit, seine Höhe abzuschätzen.
»Hoch werfen!« flüsterte Drew aus seinem Rollstuhl dem Jungen zu, der ihm am nächsten war. Alle fünf trugen dunkle
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