Bettler 01 - Bettler in Spanien
schloß die Tür.
»Kümmere dich nicht um diese Leute, Leisha«, sagte er mit seinem wunderbaren Akzent. »Niemals. Wir in Asien sagen: ›Die Hunde kläffen, aber die Karawane zieht weiter.‹ Du darfst nie zulassen, daß deine persönliche Karawane vom Gekläff ungezogener oder mißgünstiger Hunde aufgehalten wird.«
»Das werde ich nie zulassen«, hauchte Leisha; sie wußte nicht so recht, was genau die Worte bedeuteten, aber später würde sie genug Zeit haben, darüber nachzudenken und sie mit Papa zu besprechen. Im Moment hingegen war sie wie geblendet von Kenzo Yagai, dem Mann, der die Welt ohne Gewaltanwendung veränderte, ohne Waffen, nur mit den Früchten seiner eigenen Leistungen. »Wir beschäftigen uns in der Schule mit Ihrer Philosophie, Mister Yagai.«
Kenzo Yagai sah Papa an, und Papa sagte: »Es ist eine Privatschule. Doch auch in der öffentlichen Schule, die Leishas Schwester besucht, wird Ihre Philosophie durchgenommen, zwar nur in groben Zügen, aber immerhin. Es kommt langsam, Kenzo, aber es kommt!« Es fiel Leisha auf, daß Papa mit keinem Wort erklärte, warum Alice heute abend nicht mitgekommen war.
Daheim saß Leisha dann stundenlang in ihrem Zimmer und dachte über alles nach, was sie erlebt hatte, und als Alice am nächsten Morgen von Julie nach Hause kam, rannte Leisha ihr aufgeregt entgegen. Aber Alice schien sich über irgend etwas zu ärgern.
»Alice, was ist denn los?«
»Sag mal, glaubst du nicht, daß ich in der Schule schon genug mitmache?« schrie sie. »Jeder weiß es, aber solange du Ruhe gabst, gaben die dort auch Ruhe! Sie hatten schon aufgehört, mich zu nerven, und jetzt? Warum mußtest du das tun?«
»Was denn?« fragte Leisha bestürzt.
Alice schleuderte ihr etwas entgegen – den Computerausdruck einer Morgenzeitung, die auf dünneres Papier gedruckt war als das der Camden-Systeme. Zu Leishas Füßen entfaltete sich die Zeitung, und Leisha starrte auf ihr eigenes Bild; es zeigte sie zusammen mit Kenzo Yagai über drei Spalten, und darüber stand: ›YAGAI UND DIE ZUKUNFT: IST IN IHR NOCH PLATZ FÜR UNS NORMALSTERBLICHE? ERFINDER DER Y-ENERGIE EMPFÄNGT ‘SCHLAFLOSE’ TOCHTER VON MEGA-FINANCIER ROGER CAMDEN.‹
Alice gab der Zeitung einen Fußtritt. »Im Fernsehen war es auch, gestern abend. Im Fernsehen! Ich gebe mir alle Mühe, bei den anderen nicht als hochnäsig und widerlich zu gelten, und dann gehst du hin und tust mir das an! Jetzt wird Julie mich vermutlich nicht mal mehr zu ihrer Pyjamaparty nächste Woche einladen!« Sie stürmte an Leisha vorbei und über die breite geschwungene Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Leisha starrte auf die Zeitung; in ihrem Kopf hörte sie Kenzo Yagais Stimme: Die Hunde kläffen, aber die Karawane zieht weiter. Sie blickte die leere Treppe entlang nach oben. Laut sagte sie: »Du siehst wirklich hübsch aus mit diesen Locken, Alice!«
4
»Ich will die anderen auch kennenlernen«, sagte Leisha. »Warum hast du mich so lange davon abgehalten?«
»Ich habe dich nicht abgehalten«, stellte Camden fest. »Etwas nicht anzubieten ist nicht dasselbe wie etwas verhindern. Warum sollte ich nicht abwarten, ob du das überhaupt möchtest? Immerhin bist du es doch jetzt auch, die den Wunsch danach ausspricht.«
Leisha sah ihn an. Sie war fünfzehn und machte ihr letztes Jahr an der Sauley-Schule. »Und warum hast du es mir nicht vorgeschlagen?«
»Warum sollte ich denn?«
»Ich weiß nicht«, seufzte Leisha. »Du hast mir doch sonst alles geboten.«
»Einschließlich der Freiheit, dir alles zu wünschen, was du möchtest.«
Leisha suchte nach dem Widerspruch in der Argumentation und fand ihn. »Das meiste, was du für meine Persönlichkeitsentwicklung getan hast, habe ich mir nicht gewünscht, weil mir der Überblick fehlte, du als Erwachsener hattest ihn hingegen. Aber du hast mir nie Gelegenheit geboten, mit den anderen schlaflosen Mutanten…«
»Du sollst dieses Wort nicht verwenden!« warf Camden mit scharfer Stimme ein.
»… Bekanntschaft zu schließen, also hältst du das entweder für nebensächlich im Hinblick auf meine Persönlichkeitsentwicklung oder du wolltest aus einem anderen Motiv heraus vermeiden, daß ich die anderen kennenlerne.«
»Falsch«, sagte Camden. »Es gibt noch eine dritte Alternative. Nämlich, daß ich diese Bekanntschaft zwar für wichtig im Hinblick auf deine Entwicklung halte, daß ich zweitens diese Bekanntschaft auch wünsche, daß sich hier drittens jedoch eine Chance auf eine
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