Bettler 01 - Bettler in Spanien
Ich habe natürlich meine Freundinnen und Papa und Alice, meine Schwester. Aber niemand von ihnen weiß… versteht wirklich… was eigentlich? Ich weiß schon nicht mehr, was ich daherrede.«
Jetzt lächelte Richard, und das veränderte sein ganzes Gesicht, brachte die dunklen Winkel darin ans Licht. »Ich verstehe dich. Und wie ich dich verstehe! Was macht man, wenn sie sagen: ›Ich hatte heut nacht einen so schönen Traum!‹«
»Ja!« rief Leisha. »Aber das ist noch nicht so schlimm. So richtig unangenehm wird es, wenn ich sage: ›Ich schlag das heute nacht für dich nach‹, und dann kriegen sie plötzlich diesen komischen Zug um den Mund, der heißen soll: ›Sie wird es machen, während ich schlafe.‹«
»Das ist auch noch nicht das schlimmste«, meinte Richard. »Der allerschlimmste Moment kommt, wenn man nach dem Abendessen Basketball gespielt hat, und dann geht man noch auf eine Kleinigkeit ins Stammlokal, und dann sagt man zu den anderen: ›Wie wär’s denn mit einem Spaziergang am See?‹, und dann sagen sie alle: ›Also ich bin echt müde. Ich geh jetzt nach Hause und hau mich aufs Ohr.‹«
»Das ist auch noch nicht das schlimmste«, widersprach Leisha und sprang ihrerseits auf. »Das schlimmste ist, wenn man sich völlig mitreißen läßt von einem Film, und dann spitzt sich die Handlung zu, und dann ist alles so traumhaft schön, daß man aufhüpft und schreit: ›Ja! Ja!‹, und Susan sagt: ›Leisha, also ehrlich, man könnte fast glauben, daß du der erste Mensch bist, der sich wirklich amüsieren kann!‹«
»Wer ist Susan?« fragte Richard.
Die launige Atmosphäre war gestört; aber nicht zur Gänze. Leisha konnte immer noch sagen: »Meine Stiefmutter«, ohne Unbehagen zu verspüren über die Diskrepanz zwischen den Hoffnungen, die Susan erweckt hatte, und dem, was daraus geworden war. Richard stand nur ein paar Handbreit vor ihr und lächelte dieses Lächeln voller Frohsinn und Verständnis, und da durchlief sie plötzlich eine heiße Woge der Erleichterung, die so stark war, daß sie geradewegs auf ihn zutrat und die Arme um seinen Nacken legte. Er zuckte ein wenig zurück, und sie hielt ihn fester. Und dann fing sie an zu schluchzen – sie, Leisha, die nie weinte.
»He!« murmelte Richard. »He!«
»Brillant!« sagte Leisha lachend und weinend. »Was für ein brillanter Kommentar!«
Sie spürte sein verlegenes Lächeln an der Wange. »Möchtest du nicht doch meine statistischen Daten über die Fischwanderungen sehen?«
»Nein«, schluchzte Leisha auf, und so hielt er sie einfach fest, tätschelte ihr linkisch den Rücken und sagte ihr ohne Worte, daß sie daheim war.
Camden hatte auf sie gewartet, obwohl es schon nach Mitternacht war. Er hatte viel geraucht. »Nun, hast du dich gut unterhalten, Leisha?« fragte er mit ruhiger Stimme durch die blauen Schwaden.
»O ja!«
»Das freut mich«, sagte er, drückte die letzte Zigarette aus und stieg langsam – langsam und steifbeinig, er war fast siebzig – die Treppe nach oben, um zu Bett zu gehen.
Beinahe ein Jahr lang gingen sie praktisch überall gemeinsam hin: zum Schwimmen, zum Tanzen, ins Museum, ins Theater, in die öffentliche Bibliothek. Richard nahm sie mit zu den anderen, einer Gruppe von zwölf jungen Leuten zwischen vierzehn und neunzehn, alle intelligent und wißbegierig. Alles Schlaflose.
Leisha erfuhr mehr.
Tony Indivinos Eltern waren, wie ihre geschieden. Nur lebte Tony, der vierzehn war, bei seiner Mutter, die nicht unbedingt ein schlafloses Kind gewollt hatte, wohingegen sein Vater, der es gewollt hatte, sich einen roten Sportwagen zulegte, sowie eine junge Freundin, die in Paris ergonomische Stühle entwarf. Tony durfte niemandem – nicht seinen Verwandten, nicht seinen Schulkameraden – verraten, daß er ein Schlafloser war. »Solist halten sie dich für abnormal«, hatte seine Mutter gemeint und ihrem Sohn dabei nicht in die Augen sehen können. Als er ihr ein einzigesmal nicht gehorchte und einem Freund anvertraute, daß er nie schlief, verprügelte sie ihn. Und dann zog sie mit ihm in eine andere Gegend. Da war Tony neun Jahre alt.
Jeanine Carter, ähnlich langbeinig und schlank wie Leisha, war Eiskunstläuferin und bereitete sich auf die Olympischen Spiele vor. Sie trainierte jeden Tag zwölf Stunden, was keinem Schläfer, der noch auf die High School ging, möglich gewesen wäre. Bis jetzt hatten sich die Zeitungen noch nicht auf die Sache gestürzt, aber Jeanine fürchtete, wenn es einmal
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