Bettler 01 - Bettler in Spanien
und stand in einer ruhigen Vorstadtstraße, in der man die Kinder mit ihren Fahrrädern vom Fenster aus im Auge behalten konnte. Wenige Häuser hatten mehr als eine Y-Energiezelle auf dem Dach, aber die riesigen alten Zuckerahornbäume dazwischen waren herrlich anzusehen.
»Komm rein«, sagte Richard Keller.
Er war nicht größer als Leisha, stämmig gebaut und mit böser Akne geschlagen. Auf den ersten Blick sah es für Leisha so aus, als wäre Schlaflosigkeit die einzige genetische Veränderung an ihm. Er hatte dichtes, dunkles Haar, eine niedrige Stirn und buschige schwarze Augenbrauen. Ehe er die Tür hinter ihr schloß, bemerkte Leisha, wie er ihren Wagen mit dem Chauffeur anstarrte, der in der Auffahrt neben einem rostigen Zehngangrad parkte.
»Ich kann noch nicht fahren«, sagte Leisha. »Ich bin erst fünfzehn.«
»Aber es ist leicht zu erlernen«, meinte Richard. »Also, möchtest du mir jetzt vielleicht sagen, weshalb du gekommen bist?«
Seine Geradlinigkeit gefiel ihr. »Ich wollte unbedingt einen anderen Schlaflosen kennenlernen.«
»Soll das heißen, du kennst keinen einzigen? Keinen von uns?«
»Meinst du damit, daß ihr euch alle kennt?« Das kam unerwartet.
»Komm mit in mein Zimmer, Leisha.«
Sie folgte ihm in den hinteren Teil des Hauses. Außer Richard schien niemand daheim zu sein. Sein Zimmer war groß und luftig und randvoll mit Computern und Aktenschränken. In einer Ecke stand ein Trockenrudergerät. Der Raum hätte eine bescheidenere Version des Zimmers irgendeines von Leishas intelligenteren Klassenkameraden sein können – nur, daß das Bett fehlte. Wodurch mehr Platz darin war. Sie trat an einen der Monitore.
»He – du arbeitest an den Boesc-Formeln?«
»An einem Anwendungsgebiet.«
»Welchem?«
»An der Gesetzmäßigkeit der Fischwanderungen.«
Leisha lächelte. »Ja, da sollte es funktionieren. Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.«
Richard schien im Zweifel, was er mit ihrem Lächeln anfangen sollte, und so starrte er erst die Wand an und dann Leishas Kinn. »Bist du an den Gäa-Strukturen interessiert? In verschiedenen Lebensräumen?«
»Eigentlich nicht«, gestand Leisha. »Zumindest nicht in erster Linie. Ich werde in Harvard Politologie studieren. Zusammen mit Jura. Aber wir haben natürlich die Gäa-Strukturen in der Schule durchgenommen.«
Richards Blick löste sich endlich von ihrem Gesicht, und er fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Setz dich doch, wenn du möchtest.«
Leisha setzte sich und betrachtete anerkennend die Poster an den Wänden, grüne Schattierungen auf blauen, die sich bewegten wie Meeresströmungen. »Die gefallen mir. Hast du sie selbst programmiert?«
»Du bist gar nicht so, wie ich mir dich vorgestellt habe«, stellte Richard fest.
»Und wie hast du dir mich vorgestellt?«
Er zögerte keine Sekunde. »Hochnäsig. Überheblich. Ohne Tiefgang, trotz deines IQ.«
Was sie mehr verletzte, als sie gedacht hätte.
»Du bist eine von den beiden Schlaflosen, die wirklich reich sind«, stieß Richard hervor. »Du und Jennifer Sharifi. Aber das weißt du ohnedies.«
»Nein. Ich habe mich nie dafür interessiert.«
Er setzte sich auf den Stuhl neben Leisha und streckte die stämmigen Beine von sich. Das lässige Hinlümmeln hatte nichts mit einer bequemen Haltung zu tun. »Eigentlich ist das logisch. Reiche Leute lassen ihre Kinder nicht gentechnisch verändern, um sie allen anderen überlegen zu machen. Sie meinen, ihre Sprößlinge müßten das von vornherein schon sein. Nach ihren Wertmaßstäben. Und arme Leute können es sich nicht leisten. Wir Schlaflosen stammen alle aus der oberen Mittelschicht. Die Kinder von Professoren, Wissenschaftlern – von Menschen, die Klugheit und Zeit zu schätzen wissen.«
»Mein Vater weiß Klugheit und Zeit auch zu schätzen«, erklärte Leisha. »Er ist der größte Förderer von Kenzo Yagai.«
»Hör mal, Leisha, glaubst du nicht, daß mir das bekannt ist? Willst du vor mir angeben, oder was?«
»Ich rede mit dir«, entgegnete Leisha mit größtem Nachdruck. Doch im nächsten Moment spürte sie bereits, wie der Effekt seiner gehässigen Bemerkung auf ihren Gesichtsausdruck durchschlug.
»Entschuldige«, murmelte Richard. Er sprang auf und stapfte zum Computer und zurück. »Es tut mir leid! Aber ich… mir ist nicht ganz klar, was du hier willst.«
»Ich bin bloß einsam«, sagte Leisha, erstaunt über sich selbst. Sie sah zu ihm hoch. »Das ist wahr. Ich bin wirklich einsam. Ehrlich.
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